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Mit den frohen Nachrichten von der Befreiung der Stadt Isjum am 11. September 2022 in der ostukrainischen Region Sloboschanschtschyna erfuhr die Welt auch von den vielen schrecklichen Verbrechen der Russen: Dutzende gefolterte Menschen und Massengräber, aus denen 447 Körper exhumiert wurden. So musste die Welt Isjum sehen.
In den letzten achtzig Jahren kam der Krieg gleich zweimal in die Stadt. Manche Bewohner erlebten zwei Besatzungen und warteten zweimal auf Befreiung. Bis heute stehen Überreste einer Brücke, die die Nazis im Zweiten Weltkrieg bauten. Gebäude, die damals stehen blieben, wurden auch Zeugen des jüngsten Kriegs. Und vor allem bleiben auch Menschen, die sich an alles erinnern.

Marija Kapanina war früher Lehrerin und Schulbibliothekarin. Sie erinnert sich noch gut, wie Isjum und die Umgebung vor und während des Zweiten Weltkriegs aussahen. Aufgewachsen ist sie auf einem Hof in der Nähe der Stadt.

Am 23. Februar 2022, einen Tag vor dem Großangriff Russlands, feierte sie im Kreis ihrer Familie ihren 92. Geburtstag.

Ich schreibe diese Geschichte, denn ich bin selbst in Isjum aufgewachsen. Es ist nach der Befreiung der Stadt im September 2022 meine erste Fahrt nach Hause. Marija lernte ich zufällig kennen: Eine Freundin hatte mich gebeten, ihrer Mutter und Großmutter einen Heizkörper nach Isjum mitzubringen. Ihre Oma war für die Hilfe sehr dankbar und empfing mich mit aller Gastfreundschaft. Also verabredeten wir uns für ein Gespräch.

Marijas Erzählung von den zwei Kriegen wird durch ein Tagebuch ergänzt, das ihre Töchter Natalia und Olena während der vorübergehenden Besatzung schrieben. Einer der beiden gelang es, aus der Stadt zu fliehen, die andere blieb bei Marija.

Das Schicksal wollte es so, dass die 92-jährige Marija nicht nur den Zweiten Weltkrieg, sondern auch den großen russisch-ukrainischen Krieg überlebt hat. Sie hat ein gutes Gedächtnis und erzählt, was den beiden blutigen Ereignissen gemein ist – und was nicht.

Leben zwischen dem Zweiten Weltkrieg und dem russischen Angriffskrieg

„Ich habe sie einige Male gesehen. Ich stand auf dem Balkon und sie (die russischen Besatzer, Anm. der Red.) verteilten unten Essen. Einer kam zum Balkon sagte mir: ,Wir haben Suppe mitgebracht, nehmen Sie sich.’ ,Vielen Dank, aber ich habe mir selbst Suppe gekocht.’“
So ist das erste Treffen von Marija mit den Russen verlaufen, als sie im Frühling 2022 Isjum besetzten. Sie waren nicht die ersten Eindringlinge in ihrem Leben.

Marija hat zwei Töchter. Eine der beiden hat die Stadt während der Besatzung verlassen, die andere lebt bis heute bei Marija. In ihrer Wohnung ist es bis auf das rhythmische Ticken der Wanduhr ganz ruhig. Auf dem Regal neben Marijas Sessel stehen die Werke von Ostap Wyschnja und Taras Schewtschenko. „Es tut mir so leid für die Ukraine“, seufzt Marija und merkt an, dass der Gedichtband „Kobsar“ sehr der Gegenwart gleicht.

Der Gedichtband Kobzar gleicht ihrer Gegenwart

Während unseres zweistündigen Gesprächs begreife ich, dass Marija ein phänomenales Gedächtnis hat: Sie erinnert sich sogar an das Wetter am ersten Tag der nationalsozialistischen Besatzung 1942 sowie an dem Tag, an dem alle Schüsse aufhörten – am 9. Mai 1945.

„Ich erinnere Charkiw nach dem Krieg. Überall standen Ruinen. 1949 haben wir an den Subbotniks die Trümmer geräumt, da, wo jetzt das Kino „Ukrajina“ im Schewtschenko-Park steht“, erinnert sich Marija an die Nachkriegsstadt.“

Wenn sie erzählt, sagt sie oft: „Ich erinnere mich“. Der Altersunterschied zwischen uns beträgt siebzig Jahre. Die Erzählung Marijas wird ergänzt durch ein Tagebuch über den russisch-ukrainischen Krieg, dass ihre Töchter Natalija und Olena während der Besatzung führten.

Wie die Kriege in Izjujm begannen

1941 war Maria in der 4. Klasse. Sie lebte mit ihren Großeltern in einem Dorf bei Isjum. Sie erfuhr damals von ihrem Großvater, dass der Krieg begonnen hatte:

„Ich erinnere mich gut an die ersten Kriegstage. Mein Opa trug damals in den Dörfern die Post aus und kam mit der Nachricht nach Hause: Es ist Krieg. Wir hatten noch kein Radio. Er lieferte auch die ersten Einberufungsbescheide aus. Ich erinnere mich auch an die ersten Nachrichten von Gefallenen aus unserem Dorf.“

Vor dem Beginn der deutschen Besatzung hörte man Explosionen in der Umgebung und sah brennende Häuser. Es gab keine Dorfverwaltung mehr. Kurz danach kamen die Besatzer.

„Ich weiß noch, wie 1942 die Deutschen gekommen sind. Es war Sommer, die Sonne hat gebrannt. Unser Dorf hatte nur eine Straße. Sie sind fröhlich zu dritt auf Motorrädern mit Beiwagen hindurch gefahren. Sind vorbeigefahren und das war’s. Und dann, ein wenig später am selben Tag, sind Autos gekommen. Sie haben gerufen: „Eier, Hühner!“, und alles aus unseren Häusern mitgenommen.“

Als sie von diesem Moment erzählt, schließt Maria die Augen und seufzt tief. Sie unterbricht sich und wirkt, als befürchte sie, dass ihr die Zeit davonlaufen könnte. Dass sie es nicht schaffen würde, alles zu erzählen. Sie erinnert sich an so vieles; es sind schmerzliche, schreckliche Erinnerungen. Denn mit der Besatzung begann das Rauben: Von Marias Familie nahmen die Besatzer das Wildschwein mit.

„Dann sind sie auf den Nachbarhof zu meiner Tante gegangen, um Hühner zu fangen. Der Hund bewachte den Hühnerstall, sodass die Deutschen nicht durchkamen. Sie haben auf ihn geschossen. Er blutete und rannte vor Schmerzen in den Schweinestall. Das werde ich nie vergessen.“

Foto von Isjum. Foto vom Autor

Während des Zweiten Weltkriegs lebte Marija bei ihrer Familie. Sie wohnte mit ihren Großeltern, Onkel und Tante und deren Kindern in einem kleinen Haus. Rundherum wurde geschossen, aber ihr Dorf blieb unversehrt. Bei Sonnenaufgang stand die Familie auf. Die Großmutter buk im Ofen Brot und der Großvater fuhr zur Mühle, um Weizen zu mahlen.

Auch achtzig Jahre später begegnete Marija dem Krieg im Kreise ihrer Nächsten. 2022 waren das ihre Töchter, die sie beruhigten und sich um sie kümmerten.

Zeugin aus Izjum. Foto vom Autor

Achtzig Jahre später begann die Besatzung ähnlich. Die russische Artillerie griff Isjum in der Nacht vom 26. auf den 27. Februar 2022 an. Als erstes machten sich die Russen absurderweise daran, das Stadtzentrum zu „entnazifizieren“: Sie begannen in der Orlow-Straße, benannt nach einem Piloten und Helden der Sowjetunion, der in Isjum gekämpft hatte. Nach einigen Tagen begannen die russischen Luftangriffe, die ganze Wohnviertel zerstörten.

„Sie bombardieren die Stadt und haben die Polizeiwache in die Luft gejagt. Die medizinische Berufsschule brennt. In der Nacht wurde die Innenstadt getroffen, die Explosion war schrecklich. Den Rest der Nacht haben wir im Wandschrank im Flur verbracht.“ So lautet der erste Eintrag im Tagebuch, datiert auf den 2. März 2022.

Sowohl unter deutscher als auch unter russischer Besatzung kümmerte sich Marija nicht nur um Ihre Nächsten, sondern auch um Ihre Tiere. Sie berichtet mir von der grauen Katze, die ihr letzten Sommer zugelaufen und bei ihr geblieben ist. Bald warf sie Junge, die die Familie im Hühnerstall neben dem Haus versteckt hielt. Heute tummelt sich beim Eingang immer ein bunter Haufen Katzen.

Tatsächlich sieht man seit der Großinvasion viel mehr ausgesetzte Tiere auf den Straßen Isjums. Bei der Bäckerei entdeckte ich einen kleinen schwarzen Hund mit beiger Schnauze bemerkt. Er drehte sich im Kreis, hatte Angst vor Menschen und zuckte sogar zusammen, als ich die Waffel zerbrach, mit der ich ihn füttern wollte.

Tiere Krieg in der Ukraine. Foto des Autors

Draußen dämmert es. Alle paar Minuten gehen Erwachsene langsam die Straße entlang oder laufen Kinder vorbei. Während des Kriegs sind mindestens 13000 Menschen geblieben. Manchmal fährt ein dunkelgrüner Pickup mit weißem Kreuz auf der Tür vorbei – das sind ukrainische Soldaten. Die meisten Autos, die hier jetzt sind, sind ihre.

Marija erzählt weiter, nur manchmal unterbricht sie sich und fragt: „Ist das interessant? Ich langweile Sie doch nicht?“

Plakat der Streitkräfte der Ukaine mit der Aufschrift: „Lieben, ihr seid frei”. Foto vom Autor

Während Marija vom aktuellen Krieg spricht, erinnert sie auch an den Zweiten Weltkrieg, dessen Wunden nie ganz verheilt sind. Ihr Vater sei im Juli 1941 an die Front gegangen. Bis 1943 habe er bei Moskau gekämpft, während die Familie nicht gewusst habe, ob er überhaupt noch lebe. Sie hätten sich zwei Jahre nicht gesehen:

„Und dann eines Abends, Ende April 1943, als die Kirschen anfingen zu blühen, da kam er. Er ist die fünfzig Kilometer von seiner Einheit in Kupjansk zu Fuß gegangen.“

In wenigen Monaten wurde Marijas Vater bei Isjum viermal schwer verwundet. An nur einem Tag wurde sein Arm verwundet, ein Geschossteil gelangte unter sein Schulterblatt und eine Kugel riss seine Wade auf. Ein weiteres Schrappnel traf die Kniescheibe des anderen Beins, sodass der Unterschenkel amputiert werden musste. Er lag lange in Poltawa im Krankenhaus. Um ihn zu besuchen, ist Marijas Mutter fast 200 Kilometer zu Fuß gegangen.

Isjum und die umliegenden Dörfer wurden auch 1941 aus Flugzeugen heraus zerstört. Das Haus, in dem Marija lebte, stand in der Nähe des Bahnhofs, den die Deutschen angriffen.

„Wir hörten viele Explosionen. Und sahen viele Flugzeuge. Meine Mutter und Schwester waren im Garten und ich im Hof. Richtung Osten fuhren Güterzüge mit evakuierten Menschen. Und gen Westen das Militär, mit Planen verdeckte Panzer.
Eines Tages kamen Flugzeuge, aus denen sie mit Maschinengewehren geschossen haben. Ich stehe im Hof und kann sogar den Piloten sehen: rote Haare, mit Brille. Wohin sollte ich rennen? Ich kletterte auf.. Naja, kopfüber bin ich unter die Matte gerutscht, auf der die rote Beete gestapelt war. Meine Mutter zog mich an den Beinen heraus und wir haben uns im Keller versteckt.“

Das Haus, in dem Marija heute lebt, ist weit vom Bahnhof entfernt. Wobei dieser auch schon von den Besatzern zerbombt wurde.

Was in Isjum während der Besatzung passiert ist

Luftschläge und Raketen haben in Isjum den größten Schaden angerichtet. Die Hochhäuser wurden von den Bomben zu Boden gemacht und begruben ganze Familien unter den Trümmern. 54 Menschen sind allein in dem vierstöckigen Gebäude in der Straße des 1. Mai gleichzeitig ums Leben gekommen. Die Leichen konnten erst einige Monate später aus den Trümmern geborgen werden.

Durch eine Flugzeugbombe am 9. März 2022 zerstörtes Wohnhaus in Izjum, wo 54 Menschen ums Leben kamen. Foto: Wiktorija Jakymenko

Isjum und die umliegenden Dörfer wurden auch 1941 aus Flugzeugen heraus zerstört. Das Haus, in dem Marija lebte, stand in der Nähe des Bahnhofs, den die Deutschen angriffen.

„Wir hörten viele Explosionen. Und sahen viele Flugzeuge. Meine Mutter und Schwester waren im Garten und ich im Hof. Richtung Osten fuhren Güterzüge mit evakuierten Menschen. Und gen Westen das Militär, mit Planen verdeckte Panzer.
Eines Tages kamen Flugzeuge, aus denen sie mit Maschinengewehren geschossen haben. Ich stehe im Hof und kann sogar den Piloten sehen: rote Haare, mit Brille. Wohin sollte ich rennen? Ich kletterte auf.. Naja, kopfüber bin ich unter die Matte gerutscht, auf der die rote Beete gestapelt war. Meine Mutter zog mich an den Beinen heraus und wir haben uns im Keller versteckt.“

Das Haus, in dem Marija heute lebt, ist weit vom Bahnhof entfernt. Wobei dieser auch schon von den Besatzern zerbombt wurde.

Besatzung von Isjum. Foto vom Autor

„Ein Haus im Osten der Stadt brannte die ganze Nacht lichterloh. Es ist komplett verbrannt. Ein fürchterliches Schauspiel. Wir sitzen und überlegen, wer dort wohnt. Es ist schrecklich zuzuschauen, wie Leben zerstört werden. Wir werden nie wieder so leben wie zuvor.“ Tagebucheintrag vom 10. März 2022.

Zwischen Kriegserinnerungen teilt Marija unzählige weitere wichtige Momente aus ihrem Leben: die vielen Umzüge der Familie in den Nachkriegsjahren, ihre erste Anstellung in der Bibliothek, die ersten Lebensjahre ihrer Enkelin. Es ist spürbar, wie viel es ihr bedeutet, die Erinnerungen weiterzugeben.

Sie berichtet davon, wie sie zum ersten Mal in der Schule arbeitete. Nach einigen Jahren erhielt sie eine Auszeichnung für Ihre Verdienste um die öffentliche Bildung.
Ihre Tochter bringt uns Tee. Die Heizung wärmt das Zimmer spürbar auf. Im Winter 2022 hatte nur die Hälfte aller Hochhausbewohner der Stadt den Luxus warmer Heizungen. Sie wärmten sich vor allem mit der Hilfe kleiner Heizkörper, falls Strom überhaupt vorhanden war.

Die staatliche Auszeichnung für den Verdienst um die öffentliche Bildung wurde in der UdSSR von 1945 bis 1991 vergeben.

Während der vorübergehenden Besatzung zogen die russischen Eindringlinge in Häuser ein, die von ihren Bewohnern verlassen worden waren. Manchmal schmissen sie sogar Bewohner aus ihren Wohnungen heraus. Alles, was in den unversehrten Häusern geblieben ist, sind jede Menge Müll und Schachteln der russischen Soldatenverpflegung. Eine neue Welle der Zerstörung kam über die Stadt, als die Besatzer ihre Einwohner als „menschliches Schutzschild“ benutzten. Ihre Ausrüstung versteckten die russischen Soldaten nahe bei den Häusern der Stadtbewohner, um sich so vor Angriffen der ukrainischen Armee zu schützen.

Besatzung von Isjum. Foto vom Autor

„Ein gepanzerter Mannschaftswagen mit Soldaten hielt neben dem Straßenbrunnen. Wir beobachteten die Soldaten durch die Fenster. Sie schossen, sodass wir uns in den Flur gekauert haben. Es war das erste Mal, dass wir sie vor unserem Haus gesehen haben.“ Tagebucheintrag vom 8. März 2022.

Die Besatzer in Isjum waren unterschiedlich, erzählt Marija. Einige hätten sogar Essen verteilt, während andere Durchsuchungen organisierten und jede Wohnung überprüften.

„Einmal stand ich auf dem Balkon und sie (die russischen Besatzer) verteilten unten Essen. Einer sah mich und sagte zu mir auf Russisch: „Wir haben Suppe gebracht, nehmen Sie sich.“ Ich bin nicht hingegangen. Ich antwortete: „Vielen Dank, aber ich habe mir selbst Suppe gekocht.“
Das war Marijas erste Begegnung mit den Russen, als sie im Frühling 2022 Isjum besetzten.

Die Suche nach proukrainischen „gefährlichen“ Personen in der ganzen Stadt – das ist nur die Spitze des Eisbergs der russischen Kriegsverbrechen. Erst nach der Befreiung der Stadt erfuhr die Welt davon, dass sie Zivilisten gefoltert und ermordet hatten.

Der aktuelle Krieg und der Sieg

Von der Großinvasion erzählt Maria unwillig, mit schmerzerfüllter Stimme. Ihre Erinnerungen sind zu frisch und voller unterschiedlicher Gefühle. Am schlimmsten schmerzt der Verrat von Menschen aus Isjum, die über Jahre nebenan lebten und den Russen dann gerne Erfolg gewünscht haben.

„Da bin ich jetzt 92 Jahre alt und habe glaube ich noch nie so viel geweint wie seit dem 24. Februar. Ich habe Angst, ich kann nicht… Ich verstehe, dass ich zur älteren Generation gehöre, aber… Was und wie hier alles marodiert wurde. Schon am 24. Februar wurde geklaut und kaputtgemacht. Da waren die Russen noch gar nicht mal hier!“

Natürlich waren nicht alle Verräter. Marijas Familie und ihre Nachbarn haben sich mit Essen, Wasser und Feuer ausgeholfen. Freiwillige Helfer brachten Milch und Brot aus den umliegenden Dörfern. Andere fuhren Essen aus, sogar unter Beschuss.

Bewohner von Isjum. Foto: Wiktorija Jakymenko

Das Bedürfnis, über das Leben und die Schmerzen im Krieg zu sprechen, bringt die Stadtbewohner zusammen. Viele von ihnen erinnern sich mit Schrecken an Nachbarn, mit denen sie jahrelang Tür an Tür wohnten, und die dann mit den Besatzern kollaborierten. Davon erzählt mir auch Walerij, als ich nach meinem Gespräch mit Marija auf dem Weg zum Bahnhof bin:

„Einige der Stadtbewohner leerten ganze Geschäfte aus. Sie schlugen mir vor, mich auch anzuschließen. Sie sagten, jetzt geht das, denn hier wird Russland. Ich antwortete, dass hier niemals Russland sein wird.“

Er ist um die vierzig, verdient sein Geld mit seinem alten Auto als Taxifahrer. In den Monaten nach der Befreiung Isjums waren diese Autos die einzigen Verkehrsmittel. Die Linien-Kleinbusse fuhren erst wieder ab Ende 2022.

Vielleicht hätten die Besatzer Isjum nie ganz einnehmen können, hätte es keine Kollaborateure gegeben. Am 1. März 2022 besetzten die Eindringlinge nur die nördliche Hälfte der Stadt, die vom Fluss Siweryj Donezk geteilt wird. Das Zentrum und der höchste Punkt der Stadt, der Berg Kremjanets, liegen am südlichen Flussufer.

Ein Mitarbeiter der örtlichen Forstverwaltung begann für die Russen zu arbeiten und zeigte ihnen, wie sie über den Fluss gelangen würden. Ein weiterer Verräter, Anatolij Formitschewskyj, Kommunalpolitiker und Kommunist der Partei „Oppositionsplattform für das Leben“ steht in Abwesenheit vor Gericht, weil er den Besatzern den Weg in die Stadt zeigte.

Die Partei „Oppositionsplattform für das Leben“ ist in der Ukraine seit 2022 verboten.

Foto von Izjum. Foto vom Autor

Viele Bewohner aus Isjum haben sich den Russen aber auch entgegengestellt, sogar während der vorübergehenden Besatzung. Sie schlossen sich Einheiten der Territorialverteidigung an und unterstützten ihr Umfeld so gut es ging. So wissen wir zum Beispiel von einem Überfall von Partisanen aus Isjum, die zehn Besatzer töteten. Es gab auch Mutige, die ukrainische Flaggen versteckten und sie sogar während der letzten Tage der Besatzung hissten.

Befreiung von Izjum

Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs lebte Marijas Familie ungefähr vierzig Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. An das Kriegsende erinnert sie sich folgendermaßen:

„Ich war in der sechsten Klasse. Ich erinnere mich an diesen Tag, den 9. Mai 1945. Der Regen war vorübergezogen. Wir sind aufgewacht und die Sonne schien. Die Luft war frisch und warm, als würde die Natur lächeln. Die Menschen sind zur Dorfmitte gelaufen, dort gab es eine Versammlung. Der Schuldirektor Iwan Timofijowytsch sprach, er hatte im Krieg ein Bein verloren. An seine Rede erinnere ich mich am besten. Er sagte: ,Kinder, jetzt freut ihr euch, bald kommen eure Väter zurück und eure Brüder. Und manche von euch müssen verstehen, dass eure Väter und Brüder nicht mehr wiederkommen werden.’ Und dann: Schreien, Lachen, Tränen… So kam der Sieg.“

Achtzig Jahre später war die Atmosphäre in Isjum ganz anders, am Vortag der Flucht der russischen Soldaten. Marija erzählt, dass sie vor Verlassen der Stadt eine einwöchige nächtliche Ausgangssperre verhängten. Von der Hauptstraße habe man den Lärm des rollenden Kriegsgeräts gehört.

Befreiung von Isjum. Foto: Wiktorija Jakymenko

„Es ist beunruhigend. Den ganzen Tag Explosionen. Schon wieder wurde ein Munitionslager getroffen. Menschen sieht man keine. Es gibt kein Gas. Wir haben auf dem Holzofen gekocht. Wir haben eine Stunde gebraucht, um das Wasser für den Kaffee zum Kochen zu bringen. Abends kam eine Frau angerannt und erzählte, dass die Russen Schmetterlingsminen auf die Straße gelegt haben. Auf der Hauptstraße fahren sehr viele Autos. In welche Richtung sie fahren, sehen wir nicht, wir hören sie nur.
Nachts hören die Schüsse und Explosionen nicht auf. Auf der Hauptstraße der nicht enden wollende Lärm von Autos und Gerät. LKWs ziehen Geschütze in Richtung Charkiw.“ Tagebucheintrag vom 9. und 10. März. (dem Vorabend der Befreiung Isjums)

Schmetterlingsminen
Gemeint ist PFM-1, eine Antipersonenmine sowjetischer Herstellung, deren Form an Schmetterlinge erinnert. Dieser Minentyp wurde im Ottawa-Übereinkommen verboten. (http://surl.li/klvso)

Die Großinvasion veränderte die Bedeutung einiger Wörter, die in Isjum verwendet werden.. Es gibt Stadtbewohner, die von “Sieg“ reden und damit die Befreiung der Stadt meinen. Mit dem Begriff „auf dem großen Land“ sind Gebiete gemeint, die nicht besetzt wurden.

Ich frage Marija, ob sie glücklich war, als die ukrainischen Soldaten in die Stadt einmarschierten. Sie fragte etwas verwirrt zurück, ob die Antwort auf diese Frage nicht offensichtlich sei. Ihr fehlen sicher nicht die Worte, um ihre Gefühle zu beschreiben – eher sind es zu viele. So viele, dass es ihr schwerfällt, sie schnell auszusprechen. Eins ist klar: Sie war überglücklich.

„In der Nacht vom 9. auf den 10. März ist neben unser Haus eine Mine gefallen. Die Leute haben nur darüber geredet. Am nächsten Tag fiel die nächste direkt auf den Hof. Dem Nachbarn sind die Fenster rausgeflogen, wir aber hatten nur kleine Risse an der Wand. Vielleicht, weil ich so auf unsere Soldaten gewartet habe? So sehr gewartet, wie sollte es anders sein?“

„UNSERE SOLDATEN SIND IN DER STADT! Die ersten Schützenpanzerwagen und Panzer sind über die Hauptstraße gefahren, UNSERE! Freudentränen, Emotionen. Und ein bisschen Traurigkeit: Gestern hat es unseren Hof getroffen. Die Wand hat kleine Risse, aber Gottseidank steht sie noch. Ich bin erleichtert. Es gibt wieder Hoffnung, dass die Ukraine zurückkommt.“ Tagebucheintrag vom 11. März 2022.

Befreiung von Isjum. Foto: Wiktorija Jakymenko

Ein Hoffnungsträger flog schon im Sommer 2022 über Isjum. Eines Tages war Marijas Tochter auf dem Weg nach Hause, als sie auf dem Boden ein großes Stück Papier liegen sah. Als sie es aufhob, verstand sie: Nach halbjähriger Besatzung ließ jemand einen Papierflieger fliegen mit der Aufschrift: „Isjum ist Ukrainisch“.

Tiere im Krieg in der Ukraine

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Collage. Tiere im Krieg in der Ukraine

Befreiung von Isjum. Foto vom Autor

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Befreiung von Isjum. Foto vom Autor
Beitragende

Projektgründer:

Bogdan Logwynenko

Autor des Textes:

Oleksandr Mjasyschtschew

Chefredakteurin:

Anja Jablutschna

Redakteurin:

Olessja Bogdan

Grafiker,

Autorin des Titelblattes:

Bogdana Dawydjuk

Bildredakteur:

Jurij Stefanjak

Übersetzer,

Korrektor:

Constanze Aka

Übersetzungsredakteur:

Oleksiy Obolenskyy

Content-Managerin:

Anastasija Schochowa

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