Mit der Eroberung neuer Gebiete versucht Russland auch, die nationale Identität der lokalen Bevölkerung auszulöschen. Für den Feind ist es wichtig, dass die Menschen ihren eigenen Staat zugunsten eines anderen aufgeben. Dies dient unter anderem dazu, die Kontrolle über die eroberten Gebiete zu festigen. Doch in den vorübergehend besetzten Gebieten gibt es weiterhin Ukrainerinnen und Ukrainer, die sich nicht mit der sogenannten „Russischen Welt“* abfinden wollen und versuchen, den Verteidigungskräften bei der schnellstmöglichen Befreiung dieser Gebiete zu helfen. Dazu gehört auch die Bewegung „Wütende Waldfee“.
„Russische Welt“
Eine Ideologie des staatlich unterstützten russischen Imperialismus, die die Annexion von Nachbarstaaten mit Verweis auf deren Zugehörigkeit zur russischen Sprache, Kultur und gemeinsamen Geschichte befürwortet.Die „Wütende Waldfee“ (ukrainisch „Sla Mawka“, nach einer Gestalt der ukrainischen Folklore* – Anm. d. Red.) ist eine ausschließlich weibliche Widerstandsbewegung, die sich für einen gewaltfreien Kampf gegen die russischen Besatzer entschied. Sie entstand Anfang 2023 in Melitopol (einer Stadt in der ukrainischen Region Pryasowja, die seit 2022 von Russland besetzt und als annektiert erklärt ist – Anm. d. Red.). Die „Wütende Waldfee“ wurde zu einem Zeitpunkt gegründet, als offener Widerstand gegen die Russen fast unmöglich wurde. Die Teilnehmerinnen der Bewegung („die Waldfeen“) kennen sich untereinander nicht, agieren anonym, hängen Plakate und Flugblätter auf, verbreiten wahre Nachrichten (im Gegensatz zu den russischen Falschinformationen) und tun alles, um die Besatzer zu verunsichern.
Lediglich die drei Mitbegründerinnen dieser Bewegung kennen sich gegenseitig. Aus Sicherheitsgründen können wir ihre echten Namen nicht preisgeben, daher berichten wir in diesem Artikel über „Waldfee Eins“, „Waldfee Zwei“ und „Waldfee Drei“. Die Frauen erzählten, wie die Widerstandsbewegung aus einem Scherz heraus entstand, warum Russen beim Versuch, in die Reihen der „Wütenden Waldfee“ einzudringen, enttarnt werden, und an was es beim Leben in den besetzten Gebieten besonders fehlt.
Waldfee (ukrainisch „Mawka“)
Ein Waldgeist der ukrainischen Folklore, der als schöne, ätherische junge Frau dargestellt wird, die die Menschen in die Wälder lockt. Waldfeen gelten oft als die Seelen unverheirateter Mädchen, die auf tragische Weise ums Leben kamen.
Vom Scherz in der Küche zur Widerstandsbewegung
Die Bewegung „Wütende Waldfee“ agiert online über einen Telegram-Kanal* mit Chatbot sowie vor Ort in den besetzten Städten und Dörfern. Das Logo der Bewegung ist ein Bild von drei Frauen, das die drei Gründerinnen symbolisiert. Eine von ihnen trägt traditionelle ukrainische Kleidung, eine andere hält ein Nudelholz in der Hand, und die dritte ist in modernerer Frauenkleidung gekleidet. Diese Darstellungen wurden nicht zufällig gewählt: Sie verwandeln stereotype Frauenbilder in Symbole weiblicher Stärke.
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Obwohl das Projekt Ukraїner Telegram als unsichere Plattform betrachtet, bleibt es einer der wenigen verfügbaren Kommunikationskanäle in den vorübergehend besetzten Gebieten.Die Mitbegründerinnen sagen, dass es keine heldenhafte Geschichte zur Entstehung der Bewegung gibt. Der Hauptgrund und Anstoß war die bloße Anwesenheit der Besatzer und russischer Trikoloren in ihrer Heimatstadt. Jede der Mitbegründerinnen unterstützte Aktivisten in Melitopol auch bereits, bevor sie ihre eigene Initiative gründeten. Doch als die Widerstandsbewegung in den Untergrund ging, beschlossen sie, den Russen zu zeigen, wie der Widerstand ukrainischer Frauen aussehen kann. Waldfee Eins erklärt:
„Wir wollten zeigen, dass unsere Frauen mutig und stark sind und dass wir den Besatzern niemals nachgeben werden. Zudem verhielten sie sich in dieser Zeit (gemeint sind die Jahre 2022 bis 2023 – Anm. d. Red.) äußerst dreist gegenüber unseren jungen Frauen und waren besonders vom Widerstand der Frauen beeindruckt.“

Foto: Telegram-Kanal „Sla Mawka“.
Waldfee Drei erinnert sich, dass die Gründung der Widerstandsbewegung als Scherz in der Küche begann: „Wir sagten: Kommt, lasst uns eine Organisation gründen, um gegen die russische Besatzung Widerstand zu leisten.“ Die Idee entstand aus einem Gefühl der Hoffnungslosigkeit und Wut:
„Zunächst war es eine Art Widerstand aus Prinzip – wenn man weiß, dass die Umstände stärker sind, aber trotzdem handelt.“
Die Frauen entschieden sich für den Weg des gewaltlosen Widerstands, um den russischen Besatzern ein Dorn im Auge zu sein und klarzustellen, dass sie in Melitopol nicht willkommen sind. Als sie ihre ersten Aktionen planten, dachten die „Waldfeen“ nicht daran, dass dies größere Ausmaße annehmen und sich zu einer großen Frauenbewegung entwickeln würde. Aus Sicherheitsgründen begann alles zunächst im engen Kreis von Freundinnen. Waldfee Eins erzählt, dass ihr erstes gemeinsames Projekt die Verbreitung von Flugblättern war. Diese halfen ihnen, Gleichgesinnte zu finden:
„Wir entwarfen Bilder und Botschaften, die sie (die Besatzer) besonders verärgern sollten, und verbreiteten sie an Orten, an denen sie sie garantiert bemerken würden. Dann beschlossen wir, einen Telegram-Kanal zu erstellen, um den Menschen zu zeigen, was wir tun und was hier passiert. Und ab da ging es richtig los. Frauen und Mädchen aus anderen besetzten Städten begannen uns zu schreiben und baten uns, ihnen unsere Flugblätter zu schicken, damit sie dasselbe tun konnten. Wir erwarteten nicht, dass es so viele sein würden. Da wurde uns klar, dass es an der Zeit war, uns besser zu organisieren, die Sache ernster zu nehmen, Regeln und Sicherheitsmaßnahmen auszuarbeiten und so weiter.“
Derzeit hat die Bewegung Anhängerinnen von der Region Donezk bis zur Krim. Die „Waldfeen“ erstellten einen Telegram-Bot, damit die Teilnehmerinnen der Bewegung bequem mit den Anführerinnen kommunizieren und von ihnen Aufträge erhalten können. Dies ermöglicht eine anonyme und sichere Kommunikation, was laut Waldfee Drei oberste Priorität hat:
„Wir fragen nie nach echten Namen oder Informationen, die eine Person identifizieren könnten. Die Kommunikation erfolgt ausschließlich über vertrauenswürdige Messenger. Zudem erinnern wir ständig an die Cybersicherheit: Chats löschen, keine wichtigen Informationen speichern und so weiter.“
Waldfee Zwei fügt hinzu, dass die Menschen in den besetzten Gebieten es gewohnt sind, vorsichtig zu sein, da die Besatzer gelegentlich Kontrollen durchführen und dabei insbesondere Handys durchsuchen. Daher raten die „Waldfeen“ ihren Aktivistinnen, wenn möglich, zwei Geräte zu benutzen. Falls dies nicht möglich ist, sollen sie auf ihren Geräten nichts speichern, was die Besatzer als Beweis für Untergrundaktivitäten verwenden könnten.
Eine solche Atmosphäre der Anonymität sollte auch den Russen und den Mitarbeitern der russischen Geheimdienste zugutekommen, die in die Reihen der Bewegung eindringen und ihre Teilnehmerinnen enttarnen wollen. Laut Waldfee Eins ist es jedoch recht einfach, sie zu entlarven:
„Es ist manchmal fast komisch. Ich weiß nicht, wie sie dort ausgebildet wurden, aber der ‚Genosse Major‘ sieht komisch aus, wenn er versucht, sich als Frau auszugeben! Unsere Regeln sind so gestaltet, dass er maximal eine Aufgabe von uns bekommt – also soll er doch die ukrainische Flagge malen!“
Schmerzhafter ist es für die „Waldfeen“, Verräter unter alten Bekannten oder sogar Familienmitgliedern zu entdecken, sagt Waldfee Zwei:
„Es ist, als ob man eine Person ein halbes Leben lang kennt, und dann stellt sich heraus, dass sie für ein Zuckerbrot der Besatzer sogar ihre Familie verrät.“
Widerstand mit Humor
Die Aktivistinnen sind stolz auf all ihre Aktionen. Eine ihrer Lieblingsaktionen trug den Namen „Waldfee-Geld“. Dabei gestalteten die Teilnehmerinnen russische Rubelscheine um, indem sie Bilder ukrainischer Waldfeen darauf hinzufügten. Solche Geldscheine wurden in den Städten Melitopol, Berdjansk, Tokmak, Kachowka, Simferopol, Sewastopol und Jalta (in den russisch besetzten Gebieten der Ukraine – Anm. d. Red.) verbreitet. Schließlich wurden sie sogar in der Region Kuban in Russland gesichtet. Die Reaktion der Besatzer blieb nicht aus, erinnert sich Waldfee Drei:
„Der erste Geldschein war toll. Sie regten sich in ihren Kanälen und Kommentaren so darüber auf. Es war lustig, ihre Reaktionen zu beobachten. Und das Lustigste war, dass sie noch mehr darüber redeten, als eine englische Zeitung darüber berichtete. Anstatt die Idee als Nebensächlichkeit abzutun, wie sie es ursprünglich tun wollten, verbreiteten die Russen sie selbst.“

„Waldfee-Geld“ mit dem Slogan ‚Sie befinden sich in der Ukraine. Das ist nicht Russland‘.
Waldfee Eins erinnert sich, dass, als sie die erste Rubel-„Kopie“ in Melitopol in Umlauf brachten, die lokalen prorussischen Kanäle dies als einen Versuch darstellten, das russische Bankensystem zu zerstören:
„Stellt euch das vor! Wir brachten Kopien ihrer Rubel mit dem Slogan ‚Sie befinden sich in der Ukraine‘ in Umlauf. Und sie reden darüber, wie dumm wir seien, weil wir einen 50-Rubel-Schein (etwa 0,50 Euro – Anm. d. Red.) in Umlauf gebracht hatten, und wir mit so einem kleinen Schein nicht ihr Bankensystem zerstören oder dem Umlauf des Rubels schaden können! Ich las es und konnte meinen Augen kaum trauen. So wurde unser nächster Scherz über die Besatzer zu einem sehr ernsten ‚terroristischen Akt‘.“
Für Waldfee Zwei wurde die Aktion „Waldfee-Küche“ zur Lieblingsaktion. Zunächst verbreiteten die Frauen nur Plakate mit der Aufforderung an die Besatzer, vorsichtig zu sein, was sie trinken oder essen. Später bekamen Teilnehmerinnen der Bewegung Zugang zu einer Küche, in der die Russen aßen, und fügten Abführmittel zu deren Mahlzeiten hinzu. Bald darauf wiederholten sie dasselbe mit selbstgebranntem Alkohol:
„Als die Besatzer von Tür zu Tür gingen und nach selbstgebranntem Schnaps oder Essen fragten, dachte ich mir: Warum nicht? Kochen kann ich, und dann ist halt mal ein bisschen Abführmittel ins Essen gekommen, so was kommt vor. Und selbstgebrannter Schnaps ist sowieso gefährlich. Vielleicht habe ich einfach nicht so genau aufgepasst. So entstand die Idee der ‚Waldfee-Küche‘. Sie gefällt allen.“

„Waldfee-Küche“. Foto: Telegram-Kanal „Sla Mawka“.

„Waldfee-Küche“. Foto: Telegram-Kanal „Sla Mawka“.
Inzwischen haben die Besatzer in Melitopol oft Angst, Lebensmittel zu essen, bei denen sie sich nicht sicher sind – selbst wenn es sich um frisches Gemüse oder Obst handelt.
Ein weiterer wichtiger Teil der Arbeit von „Wütende Waldfee“ ist die Erstellung einer wöchentlichen Zeitung mit Nachrichten, da es in den besetzten Gebieten schwierig ist, Zugang zu wahrheitsgemäßen Informationen zu bekommen. Waldfee Eins spricht über die Motivation zur Gründung der Zeitung:
„Es ist klar, dass es heutzutage nicht schwer ist, Nachrichten zu finden. Doch unter der Besatzung ist das nicht für alle so. Zum Beispiel weiß die ältere Generation nicht, wie man VPN-Sperren umgeht. Zudem möchten diese Menschen kein Risiko eingehen, indem sie nach ukrainischen Kanälen suchen. So bleiben sie auf das Fernsehen angewiesen. Und ihr wisst ja selbst, was dort läuft [nur russische Propagandasender – Anm. d. Red.].“
Die Idee zur Gründung einer Zeitung kam Waldfee Zwei, als sie eine Freundin außerhalb der Stadt besuchte. Sie bemerkte, dass ihre Bekannten russische Nachrichten im Fernsehen schauen, dies für ausreichend halten und darauf verzichten, nach anderen Informationsquellen zu suchen.

Wochenzeitung. Foto: Telegram-Kanal „Sla Mawka“.

Wochenzeitung. Foto: Telegram-Kanal „Sla Mawka“.
Inzwischen stellt das Team der „Wütenden Waldfee“ wöchentlich eine Auswahl der wichtigsten Ereignisse in der Ukraine zusammen. Die gedruckte Ausgabe der Zeitung wird in Briefkästen verteilt, vor Haustüren abgelegt und in Parks hinterlassen, und die Menschen werden ermutigt, sie nach dem Lesen an Bekannte weiterzugeben. Die elektronische Version der Zeitung kann auch über den Telegram-Bot heruntergeladen werden. Waldfee Drei erinnert sich, dass bereits Menschen die Zeitung heruntergeladen und selbstständig über Messenger weiterverteilt haben. Auch solche Aktionen unterstützen die Bewegung:
„Schon eine einzige Zeitung, ein Plakat oder ein Sticker ist ein kleiner persönlicher Sieg für diejenigen, die es geschafft haben.“
Die „Wütende Waldfee“ hat weder Sponsoren noch eine Finanzierung und benötigt grundsätzlich keine großen Geldsummen. Jede, die sich der Bewegung anschließen möchte und einen Drucker zu Hause hat, kann Plakate, Zeitungen, Sticker und sogar gefälschte Geldscheine für die nächste Aktion drucken. Was für eine funktionierende Bewegung wirklich nötig ist, sind Menschen, sagt Waldfee Eins:
„Vor allem sind Motivation, Inspiration und der Glaube an den Sieg notwendig. Die finanzielle Frage steht hier nicht im Vordergrund. Geld wird natürlich gebraucht, aber keine Unsummen. Wir brauchen viele Augen und Ohren. Damit die Menschen weiter Widerstand leisten, müssen sie wissen, dass sie es nicht umsonst tun. Wir stellen oft fest, dass die Zahl der Aktivistinnen steigt, sobald gute Nachrichten aus der Ukraine oder vom Schlachtfeld kommen. Die Menschen werden inspiriert und sind wieder bereit zu handeln. Leider funktioniert das auch umgekehrt – da alle die Nachrichten im Internet lesen, ist es auch sehr leicht, demotiviert zu werden.“
Ein weiteres wichtiges Ziel der drei „Waldfeen“ ist es, andere Frauen in den besetzten Gebieten zu unterstützen. Sie erinnern die Frauen daran, dass es eine Anlaufstelle für sie gibt – und Menschen, mit denen sie reden können, die ihre Gedanken und Ansichten teilen. Waldfee Eins versucht, die Teilnehmerinnen nicht zu sehr Trübsal blasen zu lassen, und Waldfee Drei fügt hinzu, dass einfache Gespräche dabei oft helfen:
„Es geht nicht darum, jemanden zu etwas zu überreden, sondern um eine Art freundschaftliche gegenseitige psychologische Unterstützung. Es ist wie ein abendlicher Plausch mit einer Freundin. Das ist der Geist unseres Telegram-Kanals: Alles ist mit Sarkasmus und Humor gehalten.“
Waldfee Zwei erzählt, dass die drei oft gemeinsam auf die Nachrichten der Teilnehmerinnen antworten:
„Wir sind Freundinnen. Selbst wenn ich älter bin als viele von ihnen, kommen die Frauen zu mir, um Rat zu suchen oder, wenn es ihnen besonders schwerfällt, um ein paar Tränen zu vergießen. Viele junge Frauen aus verschiedenen Städten schreiben uns, um Rat zu holen oder einfach über die Besatzung zu sprechen. Dann kommen die Mädels zu mir, wir setzen uns zusammen und beginnen, allen zu antworten. Es ist wie ein anonymer Frauenclub. Ich hoffe, dass wir uns mit einigen nach der Befreiung treffen können. Obwohl wir uns nie gesehen haben, sind wir schon wie Freundinnen.“
Die „Waldfeen“ stellten auch fest, wie sehr es den Frauen in den besetzten Gebieten hilft, zu wissen, dass sie Unterstützung in der Ukraine oder im Ausland haben. Waldfee Eins erzählt:
„Ich erinnere mich, wie begeistert sie waren, als sie die Fotos aus verschiedenen Ländern sahen, auf denen sich Frauen unser Symbol auf die Hände gemalt hatten! Das war total abgefahren. Die ‚Waldfeen‘ schrieben damals viel, aber eine Nachricht blieb mir besonders im Gedächtnis: ‚Ich weiß nicht, wie Ihr das geschafft habt, aber ich danke Euch. Es war für mich so wichtig zu sehen, dass wir nicht vergessen sind, dass man stolz auf uns ist und weiterhin für uns kämpft – das gab mir die Kraft, weiterzukämpfen.‘“

Unterstützung der „Waldfeen“ im Ausland. Foto: Telegram-Kanal „Sla Mawka“.
Was jedoch schmerzhaft zu sehen ist, sind die Vorwürfe, dass die Aktionen der „Wütenden Waldfee“ unzureichend seien und die Widerstandskämpferinnen sich mehr anstrengen könnten. Die Gründerinnen sagen, dass es seltsam ist, solche Worte zu lesen, besonders von Personen, die nicht in der Ukraine sind. Denn in den besetzten Gebieten ist es mittlerweile sehr schwierig, einen offenen Kampf zu führen: Die Russen haben Überwachungskameras auf den Straßen installiert und angekündigt, bald auch solche zu installieren, die Gesichter erkennen können. Die Besatzer kontrollieren die Menschen auf den Straßen, führen Hausdurchsuchungen durch und tun alles, um das Leben sowohl der Aktivisten als auch der gewöhnlichen Bürger zu erschweren, sagt Waldfee Eins:
„Man muss viele Details durchdenken, bevor man überhaupt ein Flugblatt aufhängt. Deshalb ist es nebenbei bemerkt sehr beleidigend, wenn Ukrainer schreiben, dass wir Unsinn machen, der nichts bringt. Jedes Mal zucken wir bei jedem Geräusch, Schatten oder einfach nur bei unserer eigenen Angst zusammen. Manchmal sind diese Situationen real: Jemand schaut aus dem Fenster (und es gibt genug Leute, die andere verpfeifen), ein Auto fährt vorbei oder etwas anderes passiert… Man denkt jedes Mal, das war’s, jetzt werden sie uns erwischen… Aber dann tust du schnell, was du tun musst, wie in einem Nebel, und rennst weg. Und selbst wenn du in Sicherheit bist, spürst du es nicht. Was, wenn jemand dich gesehen hat? Was, wenn irgendwo eine Kamera war, die du nicht bemerkt hast? Was, wenn sie dich finden…“
Das Leben unter der Besatzung ist im Allgemeinen eine erhebliche Einschränkung. Die größte Herausforderung bleibt das bloße Überleben. Die „Waldfeen“ beobachten: Je länger die Besatzung andauert, desto schwerer fällt es den Menschen, zu kämpfen und an etwas zu glauben. Dies ist auf die Informationsbeschränkungen, die Schwierigkeiten bei der Deckung der Grundbedürfnisse sowie den psychologischen Druck der Russen zurückzuführen. Waldfee Zwei meint, unter diesen Bedingungen lernt man das, was man früher für selbstverständlich hielt, besser zu verstehen und zu schätzen:
„Viele Dinge, die wir früher gar nicht bemerkt haben, nimmt man heute sehr direkt wahr. Zum Beispiel die Möglichkeit, in der Sprache zu sprechen, die man möchte, ohne seine Gedanken verbergen zu müssen. Es klingt vielleicht seltsam, aber ich vermisse sogar unsere ukrainischen Lebensmittel, an die ich gewöhnt war. Doch leider vergeht die Zeit, und die Menschen gewöhnen sich an dieses Leben. Das ist wohl das Beängstigendste.“
Für die „Waldfeen“ bedeutet das nur eines: noch erfinderischer zu werden, neue Wege für den Widerstand zu suchen, dabei anonym zu bleiben und die innere Moral aufrechtzuerhalten.

Wochenzeitung der Besatzung. Foto: Telegram-Kanal „Sla Mawka“.
Kämpft, und ihr werdet siegen
Alle Entscheidungen bezüglich der Aktivitäten der „Wütenden Waldfee“ werden von den drei Mitbegründerinnen gemeinsam getroffen, allerdings nur, wenn jede von ihnen zustimmt. Andere Teilnehmerinnen tragen selbst die Verantwortung für ihre eigene Sicherheit und das eingegangene Risiko. Die Sicherheitsregeln, so Waldfee Drei, bleiben dabei immer gleich:
„Die Orks (Russen – Anm. d. Red.) werden dich so oder so verhaften – sei es wegen eines Stickers mit einer ukrainischen Waldfee oder wegen einer Zeitung. Am riskantesten ist es wahrscheinlich, eine russische Flagge zu verbrennen. Vor solch einer Aktion besprechen wir genau, wer es macht, ob Kameras vorhanden sind und zu welcher Zeit es am besten umzusetzen ist. Und wir veröffentlichen das Ergebnis [unserer Aktion] niemals sofort [im Internet], um den Feind nicht zu alarmieren.“
Aus demselben Grund versuchen die „Waldfeen“, ihre Aktivitäten ausschließlich über die Kommunikationswege der Bewegung zu dokumentieren: über ihre Website, auf der es eine spezielle Rubrik „Waldfee-Tagebücher“ gibt, über ihren Telegram-Kanal oder durch die Zusammenarbeit mit Journalisten. Persönliche Aufzeichnungen werden weitgehend vermieden, betont Waldfee Drei:
„Das wäre, als würde man sich selbst eine Anklageschrift für ein russisches Gericht erstellen.“
Hinzu kommt der psychologische Druck. Für die „Waldfeen“ besteht dieser vor allem in der bloßen Präsenz des Feindes auf ihrem Heimatboden. Doch auch Angriffe im Internet tragen dazu bei: beleidigende Kommentare oder massenhafte sexistische Drohungen in ihrem Telegram-Kanal oder auf russischen Plattformen. Die Russen versuchen häufig, die sozialen Netzwerke der „Wütenden Waldfee“ zu hacken, Klone des Chatbots oder gefälschte Accounts von Mitgliedern der Bewegung zu erstellen und im Namen der „Waldfeen“ Nachrichten an die örtliche Bevölkerung zu senden. Gleichzeitig, so Waldfee Eins, bemühen sich die Besatzer, den Widerstand als nicht existent darzustellen:
„Sie werten unsere Aktionen in ihren Kanälen ab, bezeichnen uns als irgendwelche Ratten oder behaupten, wir existierten überhaupt nicht. Aber warum schickt ihr dann die ‚Junarmija‘*, um unsere Graffiti zu übermalen? Das Schlimmste für sie ist, unsere Existenz anzuerkennen. Denn dann müssten sie zugeben, dass sie hier nicht so viel Unterstützung haben, wie sie in ihrer Propaganda behaupten. Und genau das ist unsere Hauptaufgabe: Wir zeigen der Welt, dass wir hier sind und dass die Menschen hier auf die Ukraine warten!“
„Junarmija“
Die „Junarmija“ (russisch – „Jugendarmee“) ist eine russische paramilitärische Organisation für Minderjährige, die 2016 vom russischen Verteidigungsministerium gegründet wurde. Die Organisation steht wegen der Militarisierung ukrainischer Kinder in den besetzten Gebieten unter starker Kritik.Solche Hindernisse beeinträchtigen jedoch nicht den Wunsch der „Wütenden Waldfee“, ihren Widerstand fortzusetzen. Die Frauen wollen den Russen zeigen, dass sie sich nicht mit der Besatzung angefunden haben, wie Waldfee Zwei erklärt:
„Manchmal denkt man, vielleicht ist alles umsonst, vielleicht bleiben sie wirklich auf Dauer hier. Aber dann sagst du dir: „Mach einfach weiter, unsere Jungs werden kommen.“

Eine der „Waldfeen“ in Melitopol. Foto: Telegram-Kanal „Sla Mawka“.
Neben Gemeinschaft und Unterstützung hilft den „Waldfeen“ auch Humor – oft schwarzer – dabei, ihre Tätigkeit fortzusetzen. Doch manchmal erscheinen Geschichten über ihre Aktionen erst im Nachhinein lustig, während sie bei ihrer Durchführung für die Teilnehmerinnen gefährlich sein können. So erinnert sich Waldfee Eins an eine der Frauen, die auf der besetzten Krim Flugblätter verteilen wollte. Die Frau nahm in der Nähe eines Zauns Platz, um die Flugblätter unbemerkt hervorzuholen:
„Als sie die Flugblätter herauszog, kam ein alter Mann von hinten. Sie versteckte die Flugblätter und wartete, bis er weggeht. Doch er kam näher und sagte zu ihr: „Ist ja klar, Salz!“ Anfangs fand sie es komisch, dass der alte Mann dachte, sie suche nach einem „Drogenversteck“. Doch schnell wurde ihr klar, dass die Sache ernst war. Er packte sie (sie konnte gerade noch das Flugblatt verstecken) und schleppte sie in Richtung eines Hauses. Er sagte, er werde sie jetzt verhören, damit sie gestehe, von wem sie die Drogen kaufte. Die Frau konnte fliehen, und alles ging glimpflich aus. Aber es war zugleich zum Lachen und zum Weinen. Der alte Mann hätte die Polizei rufen können, die unsere Flugblätter gefunden hätte. Aber Gott sei Dank ist das nicht passiert.“

„Räumt den russischen Müll weg!“ Foto: Telegram-Kanal „Sla Mawka“.
Obwohl die „Waldfeen“ sich vor jedem Einsatz gründlich vorbereiten, kommen dennoch unvorhergesehene Situationen vor. Es ist jedoch gut, wenn eine unbekannte Person, die zufällig in der Nähe ist, pro-ukrainische Ansichten hat. Etwas Ähnliches passierte Waldfee Eins:
„Am unangenehmsten war bisher, russische Flaggen zu verbrennen… Man will das nicht irgendwo im Hinterhof machen, sondern direkt vor Ort, damit die Besatzer es nicht aus einem Telegram-Kanal erfahren. Wenn es gelingt, ist das unbeschreiblich! Manchmal muss man fünfmal an den Ort zurückkehren, um so etwas zu tun, weil zuvor etwas im Weg war. Ein Vorfall war am überraschendsten… Während der Aktion tauchte eine Frau auf… Sie sieht mich, ich sehe sie, wir stehen einfach beide wie versteinert da und starren uns an. Dann lächelt sie und sagt: ‚Komm, mach schnell, da fährt ein Streifenwagen in der Nähe, geh besser die Straße Soundso entlang.‘ Ich war völlig überrascht, aber lief schnell los, mit einem Lächeln, und dachte: die gehört zu uns!“
Den Frauen hilft auch Unterstützung von außen. Waldfee Drei erzählt:
„Wenn ausländische Journalisten über uns schreiben, verstehen wir, dass wir etwas richtig machen. Vor einiger Zeit stieß ich auf einen Beitrag eines ukrainischen Soldaten, der uns gesehen und sich öffentlich bei uns bedankt hatte… Ich weinte… Denn eigentlich sind wir es, die euch dankbar sind! Wir werden alles tun, was in unserer Macht steht, solange es nützlich ist…“
Auch alltägliche Kleinigkeiten und Rituale geben Kraft. Für Waldfee Drei ist es zum Beispiel das Planen und Aufräumen. Für Waldfee Zwei sind es Gegenstände, die sie an das Leben vor dem groß angelegten Krieg erinnern. Waldfee Eins sagt, manchmal scheine es, als sei die Verbindung zum friedlichen Leben verloren. Doch sie hat einen besonderen Talisman, der sie inspiriert:
„Es ist ein Foto meines Großvaters… Er stammt selbst aus dem Donbas, [auf dem Bild] trägt er eine Wyschywanka (ein traditionelles ukrainisches besticktes Hemd – Anm. d. Red.), sieht würdevoll und klug aus… Wenn ich keine Kraft mehr habe, stelle ich mir vor, was er zu all dem sagen würde… Und dann stehe ich auf und tue, was getan werden muss.“
Im Allgemeinen stärken ukrainische Symbole die Moral der Menschen, obwohl es unter den Bedingungen der Besatzung äußerst schwierig ist, Traditionen aufrechtzuerhalten. Die „Waldfeen“ sagen, dass sie dies nur im engsten Familienkreis tun und niemals öffentlich zeigen. Zu Ostern bemalten sie Pysanky (traditionelle ukrainische Ostereier – Anm. d. Red.), im Winter feierten sie den Nikolaustag und Weihnachten*. All dies geschieht im Stillen, da es in den besetzten Gebieten derzeit keinen offenen Widerstand gibt, wie er in den ersten Tagen der russischen Invasion zu beobachten war. Die Besatzer unterdrücken jede Form von Widerstand, doch Waldfee Zwei erzählt, dass bestimmte Gewohnheiten bei den Menschen dennoch erhalten bleiben:
Nikolaustag und Weihnachten
Seit der Unabhängigkeit der Ukraine 1991 ist der Nikolaustag ein kirchlicher und Weihnachten ein gesetzlicher Feiertag. Seit 2023 werden sie nach dem gregorianischen Kalender begangen: der Nikolaustag am 6. Dezember und Weihnachten am 25. Dezember. In Russland wird der Nikolaustag nicht gefeiert. Der Weihnachtsfeiertag ist dort nach dem gregorianischen Kalender am 7. Januar. In der atheistischen Sowjetunion gab es keine religiösen Feiertage – das Feiern von Weihnachten war verboten. Stattdessen wurde das Neujahrsfest gefeiert.„Ich sah, wie sich Menschen im Krankenhaus auf Ukrainisch an das Personal wandten. Sie verstanden nicht einmal, dass das verboten ist – es ist einfach ihre Muttersprache. Sie hätten sehen sollen, wie sehr das die Ärzte aus Russland verärgerte. Die Ärzte begannen sogar, diesen Menschen zu drohen. Früher hatten wir eine sanfte Ukrainisierung, jetzt erleben wir eine erzwungene Russifizierung.“

„Waldfee-Geld“ mit den Slogans ‚Russische Banken gehören hier nicht hin‘ (oben) und ‚Die Krim ist Ukraine‘ (unten). Foto: Telegram-Kanal „Sla Mawka“.

„Waldfee-Geld“. Foto: Telegram-Kanal „Sla Mawka“.
Die russischen Besatzer sind generell durch jegliche Erwähnung von allem Ukrainischen verärgert. Laut den „Waldfeen“ kamen die Russen in die Ukraine, um den Menschen ihre eigenen Bräuche aufzuzwingen und lokale Traditionen und Regeln auszurotten. Dazu gehören die ukrainischen Buchstaben „ї“ (ji) und „є“ (je)*, die die Besatzer offenbar einschüchtern, sowie die ukrainische Geschichte und Identität im Allgemeinen. Die Bewegung „Wütende Waldfee“ erinnert die Russen jedoch daran, dass ihre Anwesenheit hier nur vorübergehend ist und sie das Ukrainische niemals vollständig auslöschen können. Waldfee Eins betont:
Buchstaben „ї“ und „є“
Die Buchstaben ї (Umschrift: ji), є (je), і (i) und ґ (g) sind Teil des ukrainischen, jedoch nicht des russischen Alphabets. Der Buchstabe ї (ji), der unter den kyrillischen Alphabeten nur im Ukrainischen und dem nahe verwandten Russinischen vorkommt, wurde im Russisch-Ukrainischen Krieg zu einem Symbol des ukrainischen Widerstands: So wird ї in den russisch besetzten Gebieten als Zeichen gegen die Besatzer auf Hauswände und öffentliche Plätze gemalt.„In deinen Händen steckt viel mehr Kraft, als du denkst. Jede deiner Handlungen zählt, und das inspiriert. Es zeigt, wie großartig die Ukrainer wirklich sind! Und ukrainische Frauen sind sogar cooler als die Superhelden von Marvel.“
Im Laufe ihres Widerstands erkannten die „Waldfeen“ nicht nur die Stärken der Ukrainer, sondern auch die auffälligen Unterschiede der Ukrainer zu den Russen. Waldfee Drei glaubt, dass der wesentliche Unterschied darin liegt, dass die Ukrainer nichts Fremdes brauchen, sondern nur ihr Eigenes schätzen. Waldfee Eins sieht keinerlei Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Nationen:
„Sie [die Russen] sind nicht nur keine Brüder, sondern nicht einmal entfernte Verwandte. Sie haben keine innere Kultur, keinen Geschmack, kein kritisches Denken, keine innere Freiheit, kein eigenes Ich, keine Würde, keinen Willen und vieles mehr. Sie besitzen keine Wahrheit.“
Waldfee Zwei fügt hinzu, dass die Ukrainer sich besonders durch ihr Gefühl der inneren Freiheit auszeichnen:
„Es ist ein untrennbarer Teil von uns. Sie [die Russen] verstehen nicht, dass von ihnen etwas abhängt, sie gehen wie Schafe in den sicheren Tod. Aber wir [Ukrainer] sind es gewohnt, den Hetman (Anführer – Anm. d. Red.)* zu wechseln, wenn uns einer nicht gefällt.“
Hetman
Ein historischer Titel für einen obersten Führer in der Ukraine. Er bezeichnete ursprünglich den Anführer des Kosakenheeres und später das Oberhaupt des ukrainischen Kosakenstaates im 17. und 18. Jahrhundert.Die Bewegung „Wütende Waldfee“ setzt ihre Arbeit in den besetzten Gebieten trotz aller Widrigkeiten fort und plant, dies bis zur Befreiung zu tun. Insbesondere möchte sie der Welt zeigen: der ukrainische Widerstand existiert, die Menschen in den besetzten Gebieten warten nicht auf Russland und wollen nicht mit Russland leben:
„Wir versuchen zu erzählen, was hier wirklich passiert, und über die Verbrechen Russlands zu berichten. Wir veröffentlichen Tagebücher aus der Besatzungszeit, damit die Welt die Wahrheit weiß – dass wir hier weiterhin für das Gute kämpfen und dass wir sie bitten, weiterhin für uns zu kämpfen.“

Foto: Telegram-Kanal „Sla Mawka“.
*„Kämpft, und ihr werdet siegen.“
Eine Zeile aus dem Gedicht „Kaukasus“ des ukrainischen Nationaldichters Taras Schewtschenko (1814–1861) aus dem Jahr 1845. Der Spruch hat in der Ukraine besonders seit dem Euromaidan und dem Beginn des Russisch-Ukrainischen Krieges zusätzliche Popularität erlangt.
Die „Waldfeen“ rufen dazu auf, das Streben der Menschen in den besetzten Gebieten nach Rückkehr in die Ukraine nicht zu vergessen und an ihre Bemühungen zu glauben. Sie raten anderen Widerstandsgruppen und -bewegungen, standhaft zu bleiben, vorsichtig zu sein und an den Sieg der Ukraine zu glauben. Waldfee Eins erinnert sich:
„Der beste Rat wurde uns schon vor langer Zeit gegeben: ‚Kämpft, und ihr werdet siegen.‘* Jeder wählt seinen eigenen Weg, jeder tut, was er kann und für notwendig hält. Das Wichtigste ist, dass wir ein gemeinsames Ziel haben – die Ukraine!“
Und Waldfee Zwei sagt, dass es das fürchterlichste ist, unter Besatzung zu leben, weshalb man niemals aufhören darf:
„Lasst diese raschistischen* Monster jeden Tag sehen, dass sie uns nicht brechen können und dass wir niemals ‚Russinnen‘ sein werden.“