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Stimmen der Besatzung ist eine Serie von Geschichten der Menschen, die besetzte Gebiete verlassen haben. Unser nächster Held ist Ilija, ein Doktorant in Philosophie, Fotograf und Tätowierer, dem es dank der Legende über seine schwangere Freundin gelang, aus der besetzten Stadt Isjum zu fliehen.

Die Stadt Isjum in der Region Slobozhanschyna liegt an einer wichtigen Autobahn, die Charkiw mit Slowjansk, Bachmut und anderen Städten der Region Donezk verbindet. Die Kämpfe um Isjum begannen Ende Februar nach dem Beginn der großangelegten russischen Invasion. Die Stadt mit der Bevölkerung von fast 50.000 Menschen wurde größtenteils zerstört. Isjum war von Anfang April bis Mitte September 2022 von Russen besetzt. Während dieser Zeit hörten die Kampfhandlungen nicht auf. Die Einwohner versuchten verzweifelt zu fliehen – durch Minenfelder, schwimmend, zu Fuß oder auf eine andere Weise.

Ilija stammt aus Isjum, lebte die letzten sechs Jahre in Kyjiw, wo er studierte und arbeitete. Sein Beruf ist mit der Wissenschaft, Bildung und kulturellen Tätigkeit verbunden. Ende 2021 fuhr er mit der Freundin zu seinen Eltern nach Isjum. Dort wurden sie vom Krieg überrascht und gerieten schließlich unter Besatzung. „Wir sind dort zu lange geblieben,“ sagt Ilija. Am Ende gelang es der Familie zu fliehen und sie kehrten bereits am 5. Mai 2022 nach Kyjiw zurück.

Der Beginn des Krieges in Isjum

In der Nacht auf den 24. Februar unterhielt sich Ilija lange am Telefon mit einer Freundin aus Charkiw. Morgens um 5 Uhr meldete sie, ihre Stadt werde beschossen, und auf der Umgehungsstraße gebe es bereits Kämpfe. Zuerst konnte Ilija daran nicht glauben, aber gegen 6 Uhr erschienen die ersten offiziellen Mitteilungen über die großflächige russische Invasion in die Ukraine.

„Am 23. Februar sprachen wir gerade im Zentrum von Isjum über die Möglichkeit eines konventionellen Krieges in Europa, den es seit dem Balkankrieg nicht gab, und waren diesbezüglich ziemlich skeptisch. Bekanntlich haben die meisten Konflikte seit dem Ende des 20. Jahrhunderts einen hybriden Charakter. Wir nahmen an, dass es passieren könnte, dass man sich darauf vorbereiten müsste, aber wir wollten uns selber überzeugen, dass dies unmöglich sei.“

Konventioneller (traditioneller) Krieg
Eine Form des Krieges, die unter Verwendung konventioneller Waffen und militärischer Taktiken zwischen zwei oder mehr Staaten in offener Konfrontation geführt wird.

In den ersten Tagen der Invasion passierte in Isjum nichts. Die Stadt war wie ausgestorben: Geschäfte, Tankstellen, Geldautomaten funktionierten nicht.
„Es passiert nichts und man versteht nicht, wie man sich verhalten soll“, sagt Ilija.

Am 28. Februar wurde Isjum vom russischen Militär zum ersten Mal beschossen. Anfang März fiel in der Nähe von Ilijas Haus eine FAB-500-Bombe (500-Kilogramm-Fliegerbombe), die nicht explodierte.

Isjum ist vom Fluss Siwerskyj Donez in zwei Hälften geteilt – die nördliche und die südliche. Im Norden (Richtung Charkiw) standen bereits russische Truppen.

„Die Stadt konnte man nur nach Süden, in Richtung Kramatorsk verlassen. Ungefähr einen Tag nach unseren Gesprächen über eine mögliche Flucht wurden alle Brücken gesprengt. Somit gab es aus dem nördlichen Stadtteil, wo wir wohnten, keine Ausreisemöglichkeit mehr oder wir wussten eben nichts davon. Bereits in der ersten Woche wollten wir fliehen, aber weil die Brücken gesprengt waren, war es zu spät.“

Die Situation wurde immer schwieriger: Seit dem 4. März war die Gasversorgung wegen feindlichem Beschuss unterbrochen. Zwei Tage später gab es keinen Strom und keinen Internetzugang mehr, die Stadt war von jeglichen Kommunikationen abgeschnitten. Am 10. März sah Ilija die russische Flagge aus seinem Fenster: Damals sind die Besatzer von Norden her in die Stadt eingedrungen und im südlichen Stadtteil fanden Kämpfe statt. Die Kämpfe in der Stadt dauerten bis Ende März. Am 1. April war Isjum bereits unter vollständiger Kontrolle seitens russischer Besatzer.

Leben unter Besatzung

Gerade die Stadt Isjum war das Ziel der meisten russischen Raketen seit Anfang der Invasion, berichtete im Juli 2022 Oleksij Danilow, der Sekretär des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates der Ukraine. Bis zum 25. Mai seien mehr als 80 % der Wohninfrastruktur in der Stadt teils oder vollständig zerstört worden, sagte Maksym Strelnyk, Abgeordneter des Stadtrats von Isjum.

Während der ersten anderthalb Monate des großflächigen Krieges bekam die Stadt keine humanitäre Hilfe. Der Feind beschoss heimtückisch die Straße nach Slowjansk, und die Straße nach Charkiw wurde von russischen Besatzern kontrolliert. Es war unmöglich, Lebensmittel und Medikamente zu liefern oder Menschen organisiert zu evakuieren. Ilijas Familie hatte jedoch glücklicherweise mehr als einen Monatsvorrat an Lebensmitteln.

„Menschen, deren Häuser zerstört wurden, lebten in großer Not und unter ständigem Beschuss. Sie überlebten dank Konserven sowie den Lebensmitteln, die sie in verlassenen Wohnungen finden konnten. Sie suchten überall nach Nahrung, nicht um sie zu klauen oder weiterzuverkaufen, sondern um zu überleben.“

Später fingen die Leute an, einige Lebensmittel aus der besetzten Stadt Kupjansk oder aus Russland zu bringen, aber sie waren von geringer Qualität.

In der Nähe von Ilijas Haus gab es keinen Luftschutzbunker, weil der Grundwasserstand in der Gegend hoch ist und daher keine Keller oder Bunker erlaubt sind. Die ganze Zeit, als die Familie in Isjum war, versteckten sie sich während des Beschusses in ihrem Haus im Korridor hinter zwei Wänden. „Das war besser als nichts“, sagt Ilija.

Die Besatzer versuchten, in Isjum Zeitungen in russischer Sprache herauszugeben und ihre eigene Radiosendung zu starten. Nach drei Tagen verschwand das Signal.

„Es gab keine Netzwerkspezialisten. Um jemanden anzurufen, mussten die Leute entweder den Berg Kremijanets in Isjum besteigen oder 30-35 Kilometer außerhalb der Stadt fahren, wo der Empfang besser sein könnte.“

Im April war der Strom nur zwei oder dreimal vorhanden. Es gab weder Gas, noch Wasserversorgung. Mit der Zeit wurde es etwas leichter, weil die Temperaturen schon über null waren und kein Brennholz mehr zum Heizen benötigt wurde.

Ukrainische Tattoos bedeutete die Inhaftierung im Keller

Ende März sah Ilija einen zerstörten Konvoi der russischen Besatzer. Dann beschloss er, mit seinem Vater aus dem Haus rauszugehen, um herauszufinden, was in der Stadt vor sich ging.

„In den ersten drei Wochen der aktiven Kriegsphase bin ich überhaupt nicht rausgegangen, ich wusste nicht, welcher Tag heute ist oder ob die Ukraine als Staat überhaupt noch existiert. Man hat keine Informationen, so geht man halt raus, um herauszufinden, was vor sich geht und in welchem Ausmaß die Stadt zerstört ist.“

Fast im Zentrum von Isjum wurden die Männer an einem Kontrollpunkt aufgehalten. Russische Militärangehörige haben sie lange verhört: Wer sie sind, wohin sie gehen, ob sie im Militärdienst waren, ob sie Tätowierungen haben. Aus diesem Grund zogen die Besatzer Ilija aus und sahen eine Zeichnung auf seinem Körper:

„In meinem Fall ist das Tattoo für sie schwer zu identifizieren, sie haben es nur teilweise verstanden. Aber wenn jemand ein Tattoo mit ukrainischen Inhalten hat, ist dies ein Grund für die Inhaftierung. Ich kenne einen Fall, da wurde ein Mann mit einem Tattoo mit ukrainischem Text im Keller eingesperrt.“

Während des Verhörs nahm das Militär Ilijas Handy weg, prüfte aber nur Textnachrichten und eine Messaging-App. Sie suchten aber nicht den gesamten Inhalt durch, Hätten sie das getan, könnte das als Haftgrund dienen:

„Ich erkläre das damit, dass sie sich nicht gut mit Technologien auskennen und daher nicht alles überprüft haben. Aber einige Informationen hätten als Haftgrund dienen können.“

„Die Unsrigen haben es vermasselt“ – ein Mönch-Kollaborateur

Noch vor dem großflächigen Krieg traf Ilija einen Mönch des Männerklosters in Isjum. Ilija ging dorthin Ende Januar, um Fotos zu machen. Er traf dort den Mönch und sie unterhielten sich über alles mögliche. Dann kamen sie auf die militärische Aggression Russlands zu sprechen. Ilija fragte den Mönch, wie die Kirche zum Krieg in der Ostukraine stehe. Der Mönch antwortete, die Kirche kommentiere diese Situation nicht und habe damit nichts zu tun.

Das nächste Mal trafen sie sich Ende März, nach dem Einmarsch Russlands. Auf dem Territorium des Klosters gab es einen Brunnen, Ilija kam dorthin, um Trinkwasser zu holen. Es gab eine ständige Wache aus 3-5 russischen Soldaten und einen Sanitäter. Der Mönch sah Ilija und war sehr überrascht, dass er in der Stadt geblieben ist und sagte: „Hier bist du, mein Junge, immer noch am Leben. Wenn du etwas brauchst, komm, ich helfe dir.“

„Ich kam am Palmsonntag zu ihm, weil ich Futter für meinen Hund suchte. Damals war es ziemlich schwierig, der Hund weigerte sich, vorhandene Lebensmittel zu essen. Ich ging zum Mönch, weil es Gerüchte gab, dass russische Freiwillige unter anderem auch Tierfutter bringen würden. Er sagte, er würde etwas finden.“

Der Mönch hat in der Tat geholfen. Aber Ilija wollte ihn auch fragen, wie er die aktuellen Ereignisse in der Ukraine kommentieren könne.

„Zuerst war er ein wenig verwirrt, und dann sagte er: ‚Die Unsrigen haben es vermasselt.‘ Und fragte mich dasselbe. Ich sah die Soldaten um uns herum und dachte, ich soll besser nicht antworten. Ich war mir sicher, er wusste schon, was ich studiere und welche Position ich vertrete. Das heißt, die Kirche hat wie immer gelogen.“

Legende für die Flucht

Anfang April begannen einige Menschen, Lebensmittel aus den von der Ukraine kontrollierten Gebieten nach Isjum zu bringen. Von ihnen erfuhr die Familie über einen Fluchtkorridor nach Kyjiw. Und sie beschlossen, die besetzte Stadt am 30. April zu verlassen. Ilija gelang es, das ukrainische Radio zu empfangen und es regelmäßig zu hören. Das hat die Familie dazu bewogen, die Stadt zu verlassen.

Die Route verlief zunächst von Isjum nach Balaklija. Die Fahrt dauerte etwa fünf Stunden. Am ersten Checkpoint gab es recht strenge Kontrollen und Verhöre seitens der Besatzer:

„Ich nahm mehrere Laptops, eine Kamera und Tattoo-Ausrüstung mit. Ich dachte, sie würden sich mehr für die Kamera interessieren. Aber nein: Sie interessierten sich für das Tattoo-Equipment und sagten: ‚Du verdirbst nicht nur deine Haut, sondern auch die der anderen‘.“

Am schwierigsten war die Durchfahrt durch die seit März besetzte Stadt Balaklija, weil das russische Militär die Familie am dortigen Kontrollpunkt nicht durchlassen wollte. Die Einreise in die Stadt war nur für die Einheimischen oder deren Besucher erlaubt:

„Wir gehörten weder zu den ersten noch zu den letzten. Wir haben eine Legende ausgedacht, dass meine Freundin im sechsten Monat schwanger war und ins Krankenhaus musste. Um in die Stadt zu kommen, erinnerten wir uns an eine Person, die mit meiner Freundin im Keller wohnte und in Balaklija registriert war. Das Mädchen nannte die Adresse dieser Person. Die Russen nahmen die Dokumente, stiegen ins Auto und sagten, dass sie uns begleiten würden. Die Situation war verständlicherweise ziemlich heikel. Wir wussten nicht, wohin wir fahren sollten, also fuhren wir ins Stadtzentrum, um die Einheimischen nach dem Weg zu fragen.“

Die Besatzer sahen, dass es wirklich eine solche Straße gab. Aber während des Gesprächs stellte das Militär fest, dass einige unserer Aussagen nicht mit der Legende übereinstimmen.

„Wir standen ungefähr eine halbe Stunde am Checkpoint und unterhielten uns mit denen. Aber schließlich ließen sie uns durch mit der Aufforderung, in der Stadt nicht mehr anzuhalten. Ich weiß nicht, warum sie dies taten, denn vorher sah ich keine Menschlichkeit ihrerseits.“

Am ersten Tag kam die Familie in die von der Ukraine kontrollierte Stadt Perwomajskyj (90 Kilometer von Isjum entfernt) an, wo sie abgeholt, verpflegt und mit allem versorgt wurden. Sie übernachteten dort und fuhren am nächsten Tag nach Kyjiw.

Bis zur Befreiung Mitte September wurde Isjum regelmäßig beschossen. Humanitäre Hilfe wurde nur an arbeitsunfähige Menschen verteilt. Aber es gab sogar Arbeit: Trümmer aufzuräumen. Die Preise in den Läden stiegen ständig, der Wechselkurs Rubel zu Hrywnja betrug 1:1.

„Der Handel konzentrierte sich nicht auf die lokale Bevölkerung, sondern auf Militärangehörige, die Geld hatten. Um Bargeld abzuheben, fuhren Leute in die (auch von den Russen besetzte) Stadt Swatowe, die Provision betrug dabei 15% bis 30% des Betrages.“

Für manche ist das Schwierigste in Kriegsgebiet, ständig Flugzeuge und Raketen über den Kopf zu hören, für Ilija war das aber der Informationsmangel:

„Man versteht nicht, ob man etwas tun muss, ob die Ukraine überhaupt noch existiert. Denn man verliert schnell den Realitätsbezug.“

Denjenigen, die noch unter Besatzung leben, rät Ilija, die Kommunikation mit den Besatzern zu minimieren und während der Ausgangssperre nicht auf die Straße zu gehen – das würde in den meisten Fällen Leben retten, sagt Ilya. Obwohl der Mann selbst aufgrund der fehlenden Kommunikation und des Internets keine Möglichkeit hatte, etwas zu tun, rät er, anderen zu helfen, sich nach Möglichkeit ehrenamtlich zu engagieren:

„Wenn du etwas tust, zeigst du deinen eigenen Willen und triffst deine eigene Wahl. Du bist kein schwaches Wesen. Und so verstehst du, dass du somit etwas beeinflussen kannst.“

Beitragende

Projektgründer:

Bogdan Logwynenko

Autorin des Textes:

Wladyslawa Krizka

Redakteurin:

Natalija Ponedilok

Interviewerin:

Chrystyna Kulakowska

Bildredakteur:

Jurij Stefanjak

Grafiker,

Autorin des Titelblattes:

Anastasija Chadschynowa

Transkriptionist:

Roman Azschnjuk

Natalja Jarowa

Übersetzer:

Oleksiy Obolenskyy

Maria Pochynok

Übersetzungsredakteurin:

Daryna Arjamnowa

Content-Manager:

Anastasija Schochowa

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