Wenn ein Tag wie ein Jahr ist: Geschichten aus Butscha

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In den ersten Tagen der groß angelegten Invasion in der Ukraine drangen russische Soldaten in die Stadt Butscha ein. Eines der ersten Fotos des Krieges, das in den internationalen Medien vorkam, zeigte ihre zerstörte Militärtechnik in der Woksalna Straße. Eine Woche später kehrten die Russen zurück, besetzten die Stadt und terrorisierten die Zivilbevölkerung. Nach der Befreiung der Stadt war die Welt entsetzt über die Bilder von Hunderten von Leichen. Die meisten von ihnen lagen in der Jablunska Straße. Zwischen diesen beiden Ereignissen lebten Menschen unter vorgehaltenen russischen Waffen. Ohne Wasser, Strom und Heizung und Hundefutter statt Lebensmitteln.

Das Telefon verstecken, das Tattoo abreißen

Am 24. Februar wachte Jewhen Oleksijenko durch laute Geräusche auf. Er ging schnell nach draußen und sah helle Explosionsblitze am Horizont. Dank seiner militärischen Vergangenheit verstand er die Logik militärischer Manöver und wusste, dass im Falle einer Großoffensive Russlands gegen die Ukraine Butscha mit Sicherheit besetzt wird. An diesem Februarmorgen entschied er sich bewusst, in seiner Stadt zu bleiben.

Jewhen, ehemaliger Offizier der sowjetischen Armee, arbeitete in der unabhängigen Ukraine als Polizist. Nach seinem Ausscheiden aus dem Polizeidienst gründete er 1997 ein Sicherheitsunternehmen. Firma, Familie, Hund. Weihnachten mit der gesamten Verwandtschaft. Das ist die starke Mittelschicht, von der sich viele in der Umgebung der Hauptstadt niedergelassen haben, wo es Kiefernwälder, frische Luft und die Nähe zu Kyjiw gibt.

Herr Oleksijenko wohnt in der Nähe der größten Kirche von Butscha, der Kirche des Heiligen Andreas des Erstberufenen. Er betritt den Kirchhof in einer leichten dunkelblauen Jacke und einer gleichfarbigen Baseballkappe. Der Mann ist etwa fünfundfünfzig Jahre alt und von mittlerer Statur. Aber das erste, was einem auffällt, wenn man ihn trifft, sind die großen dunklen Augenringe. Als man ihn bittet, ein Foto von ihm zu machen, öffnet der Mann den seine Jacke und enthüllt einen großen Trysub (Dreizack, ein nationales Symbol der Ukraine) auf seinem T-Shirt.

„Wegen solcher T-Shirts haben sie Menschen erschossen“, sagt Jewhen. „Auch wegen patriotischer Tätowierungen und Sprache. Ja, nur weil man Ukrainisch sprach, konnten die Russen einen wegschleppen.“

Aus dem Kirchenhof kann man sehr gut zeigen, wie die Russen nach Butscha kamen. Jewhen dreht sich und zeigt die Richtungen, aus denen die Besatzer am 26. Februar kamen. Eine Kolonne kam über die Warschauer Autobahn aus der Richtung von Borodjanka. Die andere kam durch die Privathäuser.

„Sie irrten mehrere Stunden lang durch die Stadt. Wahrscheinlich wollten sie direkt nach Irpin. Aber wir gaben ihre Koordinaten weiter, und unsere Soldaten haben sie in der Woksalna Straße bombardiert. Das war ihr erster Verlust: 26 Einheiten der Ausrüstung. Dann flohen die Russen Richtung Worsel. Am 5. März kehrten sie nach Butscha zurück.“

Die Einwohner:innen von Butscha nutzten die Woche zwischen dem 26. Februar und dem 5. März, um zu flüchten. Die Stadt wurde zu einem einzigen Stau. In den Autos gab es keine freien Plätze: Sieben bis acht Personen auf fünf Sitzen. So blieben in wenigen Tagen nur noch zweieinhalb Tausend Menschen von fünfzig, so Jewhen. Fast ein Fünftel von ihnen überlebte die russische Besatzung nicht. Ende Mai meldete die Polizei 420 Tote. Jewhen glaubt, dass es möglich war, diese Zahl zu reduzieren:

„Bis zum 6. März hatten wir noch Strom. Hätten die Behörden vorher im Fernsehen gesagt, dass das Gefährlichste während der Besatzung Handys sind, hätte es viel weniger Opfer gegeben. Ich habe gesehen, wie Menschen wegen ihrer Handys abgeführt wurden. Der Pate meiner Kinder wurde wegen eines Fotos der zerstörten Militärkolonne in der Woksalna Straße erschossen. Sie schauten in sein Handy, nahmen ihn zehn Meter zur Seite und erschossen ihn. Es reichte, ein Dreizack-Tattoo zu haben – und du warst tot. Ich verstehe, dass die Ansage ,Verlasst die Stadt!’ Panik ausgelöst hätte, aber man hätte auch die grundlegenden Dinge sagen können: Keine Fotos machen, kein Telefon mitnehmen, den Besatzern nicht in die Augen schauen; versuchen, Tätowierungen abzudecken, und Frauen sollten keinen Schmuck tragen.“

Noch am 26. Februar versammelte Jewhen die Bewohner seiner Wohnanlage, die geblieben sind. Der Mann riet ihnen, ihre tägliche Ration dreifach zu kürzen und auf eine Mahlzeit pro Tag umzusteigen; einen ständigen Wasservorrat zu haben und den Abzug im Badezimmer zu versiegeln, um Wärme zu sparen. Diese Empfehlungen sollten den Menschen helfen, so lange wie möglich zu überleben.

Vorrat an Zigaretten

Die Enerhetykiw Straße führt durch das Zentrum von Butscha zur Andreaskirche. Auf dieser Straße wurden die ersten Zivilisten getötet. Es waren fünf Personen im neunstöckigen Wohnhaus, das am 26. Februar von einem russischen Panzer getroffen wurde. Ab dem 5. März, als sich die feindlichen Truppen in der Stadt niedergelassen haben, stieg die Zahl der zivilen Todesopfer rapide an.

Es gab auch völlig sinnlose Todesfälle, sagt Jewhen. Zum Beispiel, wenn Menschen der Aufforderung der russischen Soldaten nicht nachkamen oder in die Stadt gingen, nachdem die Ausgangssperre verhängt worden war. Wenn er von den Toten spricht, zählt er mit den Fingern die Leichen, die er gesehen hat:

„Am Eingang zum Markt gab es zwei Leichen, in der Nähe des Einkaufszentrums gab es eine weitere, dann in der Enerhetykiw Straße, nach den fünf aus dem neunstöckigen Wohnhaus gab es zwei, und ein noch zwei lagen etwas weiter.“

Der Mann sagt, ohne den Frost im März hätte die große Anzahl von Leichen auf den Straßen zu einem Infektionsausbruch führen können.

Die Besatzer teilten Butscha in vier Sektoren auf: das Zentrum und die Gebiete um die Jablunska Straße, die Glasfabrik und das Kinderlager „Promenystyj“. Der am weitesten von Jewhen entfernte Sektor um das Lager „Promenystyj“ war von Tschetschenen besetzt. Nach der Befreiung stellte sich heraus, dass die Kadyrow-Einheiten in den Kellern des Lagers zivile Gefangene gefoltert und getötet hatten. Die restlichen Sektoren wurden von Russen und Burjaten besetzt. In den ersten Tagen schossen die Besatzer manchmal aufeinander. Obwohl die gesamte russische Militärtechnik mit dem Buchstaben „V“ gekennzeichnet war, kam es mangels normaler Kommunikation und offensichtlich aus Angst vor der ukrainischen Armee zu ganzen Schlachten in der Stadt. Jewhen erklärt:

„So sind 4-5 Fahrzeuge unterwegs, und plötzlich werden sie vom Zentrum aus angegriffen. Zehn Minuten lang ballern sie aufeinander, und erst dann merken sie, dass es ihre eigenen Soldaten sind.“

Vom ersten Tag der Besatzung an wurde in Butscha eine Ausgangssperre verhängt – von 16:00 bis 10:00 Uhr. Tagsüber brachte Jewhen Essen für seine Mutter, deren Haus anderthalb Kilometer von seiner Wohnung entfernt lag. Die Geschäfte waren geschlossen, also musste man auf Märkten oder in Lagerhäusern nach Lebensmitteln suchen. Am Ende der dritten Märzwoche, als die Vorräte fast aufgebraucht waren, begannen die Menschen, auf Müllhalden nach dem Essen zu suchen. Aber das war noch nicht das Schlimmste:

„Eines Tages teilten uns unsere Freunde per SMS mit, wo wir einen 18-kg-Sack Hundefutter bekommen konnten. Wir konnten den gerade noch nach Hause schleppen. Ich habe das Futter gekostet und stellte fest, dass es geht. Ja, ich habe wirklich Hundefutter gegessen.“

Jewhen stieß regelmäßig auf russische Kontrollpunkte und Patrouillen. In jedem Sektor gab es vier bis sechs Kontrollpunkte. Bei jeder Kontrolle wurde er bis zur Taille entkleidet und auf Tätowierungen oder blaue Flecken vom Gewehrkolben untersucht. Dann konnte er mit den Soldaten sprechen.

„Ich kannte mich ein wenig mit den Verhandlungsregeln aus, also beantwortete ich zunächst alle ihre Fragen und versuchte dann, meine zu stellen. Es waren Soldaten im Alter von 22-25 Jahren. Sie beschimpften die Amerikaner, aber als sie das Einkaufszentrum plünderten, suchten sie als erstes nach iPhones. Einmal versteckte ich mich im leeren Einkaufszentrum und hörte, wie zwei Burjaten sich unterhielten: ,Stell dir vor, die haben in jedem Haus entweder einen Laptop oder einen Computer!’ Die Burjaten waren am schwierigsten: Man spricht mit ihnen auf Russisch, aber sie verstehen nicht alles.“

An einem der Kontrollpunkte traf Jewhen auf belarusische Soldaten. Er sagt, man kann sie an ihrem Akzent und ihrer sanfteren Haltung gegenüber den Einheimischen erkennen. Während Russen, Kadyrowzy oder Burjaten sich aggressiv und trotzig verhielten, waren die Belarusen ruhiger und „nicht so wütend“.

Seit Ende Februar war in Butscha fast kein Geld mehr im Umlauf, da alle Läden geschlossen waren. Der Geldverkehr wurde durch den Tauschhandel ersetzt. Zigaretten waren die wertvollste Ware. Nach Angaben von Jewhen kostete eine Schachtel „Pryluky“ vor dem 24. Februar 35 Hrywnja, in der zweiten Woche der Besatzung aber schon 350-400 Hrywnja. Die blauen „Camel“ kosteten 600 und „Davidoff“ 800-850 Hrywnia. Jewhen raucht nicht, aber vor dem Krieg kaufte er drei Stangen Zigaretten für die Angestellten seiner Firma und hatte keine Zeit, sie ihnen zu geben. Er nannte sie seinen „goldenen Vorrat“. Er tauschte eine Schachtel „Pryluky“ gegen ein Kilo Seehecht. Ein Fahrrad kostete ihn zwei Schachteln. Und einmal haben ihm Zigaretten möglicherweise das Leben gerettet:

„Es war die erste Woche der Besatzung. Ich trug eine Skijacke. Sie hatte eine große, tiefe Innentasche. Darin befand sich neben einer Packung ‘Pryluky’ auch mein Handy. Ich wurde von einer Patrouille angehalten, und als ich den Reißverschluss meiner Jacke öffnete, sahen sie, dass etwas in der Tasche war. Wäre es nur das Handy gewesen, hätte das Ganze auch anders ausgehen können. Aber so habe ich in meine Tasche gegriffen und ihnen die Zigaretten gegeben, das Telefon haben sie nicht gesehen. Danach habe ich es nicht mehr mitgenommen, wenn ich das Haus verließ.“

Jewhen brauchte das Telefon in erster Linie zu Hause. Jedes Mal, wenn er auf die Straße ging, sah er nach, wo die russischen Soldaten stationiert waren, wie viele und welche Art von Militärtechnik sie hatten. Dann kehrte er nach Hause zurück, nahm das Telefon, ging in den sechsten Stock und schickte die Koordinaten per SMS an den SBU (Sicherheitsdienst der Ukraine). Danach löschte er die Nachricht und ging wieder nach Hause. Er schaltete das Handy nur ein, um die Informationen zu senden. Er hatte eine voll aufgeladene Powerbank, so dass der Strom für die gesamte Zeit der Besatzung reichte. So lief Jewhen jeden Tag 7-8 Kilometer. In einem Monat nahm er 12 Kilogramm ab.

Im besetzten Butscha begann der Morgen für Jewhen um 6:50 Uhr mit einem Feuer im Hof. Am Abend zuvor durfte man nicht vergessen, das Feuerholz abzudecken: In der Nacht konnte es von nassem Schnee bedeckt werden, was das Entfachen eines Feuers erheblich erschwerte. Man zündete das Feuer mit Paletten von den Märkten an, die man vorsichtshalber vor der zweiten Ankunft der russischen Soldaten gesammelt hatte. Anstelle eines Ofens hatten sie sechs Ziegelsteine und ein Gitter. Es dauerte etwa 40 Minuten, bis ein Topf mit dem Wasser für zwei Tassen kochte. Jewhen machte zunächst Kaffee für sich und seine Frau, dann bereitete er Essen für die 18 Rentner:innen seiner Wohnanlage zu und ging in die Stadt.

„Wir hatten eine Tradition: Menschen, die unter der Besatzung in der Stadt blieben, grüßten sich auf der Straße, auch wenn sie sich nicht kannten.“

Während Jewhen spricht, wechselt er von einem Thema zum anderen und erinnert sich an neue Einzelheiten des Erlebten. Auf dem Kirchengelände haben die Russen die Einwohner von Butscha nicht getötet. Aber der Ort ist nicht weniger unheimlich als die Straßen mit den zurückgelassenen Leichen. Hinter der Kirche, direkt vor den Pflastersteinen, mit denen der Hof gepflastert werden sollte, wurden die Leichen der Toten in mehreren Gräben vergraben. Sie wurden von Mitarbeitenden der kommunalen Dienste in ganz Butscha eingesammelt, um später exhumiert zu werden.

Es ist nun schon einige Wochen her, dass die Leichen abtransportiert worden sind und der Boden danach eingeebnet wurde, aber Journalist:innen aus aller Welt kommen weiterhin hierher. Einige von ihnen haben das Glück, den müden Vater Andrij zu treffen, der ihnen noch einmal alles erzählt, was hier passiert ist. Er nimmt sie mit in die Kirche, um ihnen ausgestellte Fotos zu zeigen, auf denen aus dem Boden ragende Hände und Köpfe der Ermordeten zu sehen sind.

Eine Gruppe von Ausländer:innen läuft vorbei. Währenddessen erzählt Jewhen, dass es damals vier Rotationen russischer Besatzer in Butscha gab. Sie kamen für 7-10 Tage. Jede kommende Rotation konnte an stark zunehmenden Plünderungen erahnt werden. Ein oder zwei Tage vor ihrem Abzug versuchten die russischen Soldaten, so viel ukrainisches Eigentum wie möglich zu stehlen. In erster Linie haben sie Gold und Dollar mitgenommen, sagt Jewhen.

„Sie raubten sehr professionell. Für diesen Zweck hatten sie spezielle Äxte, mit denen sie Türen innerhalb von 5-7 Sekunden einschlagen konnten. Sie nahmen sie einfach mitsamt dem Türrahmen heraus. Aber der Zynismus lag anderswo. Minenentschärfer, mit denen ich gesprochen habe, erzählten mir, dass die Russen Granaten in Gefrierschränken, in Waschmaschinentrommeln und unter Säcken mit Tierfutter aufgestellt haben. In der Wohnung der Mutter meines Freundes war ein Stolperdraht hinter der Tür angebracht.“

Zwei Monate nach der Befreiung werden in Butscha weiterhin Minen geräumt. Der Prozess verzögert sich durch das Warten auf die Hausbesitzer:innen: Minenentschärfer dürfen private Häuser nicht alleine betreten. Außerdem gibt es viele Minen in der Stadt. Ab und an sieht man auf den Straßen selbstgebastelte Schilder, die vor Minen warnen. In den Außenbezirken sollte man die Straßen nicht verlassen, geschweige denn den Wald betreten. Die Entminung des Rajons Butscha wird nach Einschätzung von Expert:innen mindestens fünf Jahre dauern.

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Auf die Frage, warum die Russen der Zivilbevölkerung den größten Schaden zufügen versuchten, antwortet Jewhen mit seiner eigenen Frage: „Können Sie die Psychologie von Tieren erklären? Ich kann es nicht“. Er denkt oft daran, wie seine Frau ihn nicht allein ausgehen ließ und darauf bestand, mit ihm zu gehen:

„In all dieser Zeit hat meine Frau nicht einmal geweint. Auch wenn es Situationen gab, die einfach schrecklich waren. Wir liefen an einem Einkaufszentrum vorbei und hörten plötzlich eine Maschinengewehrsalve. Wir fielen zu Boden. Wir blieben liegen. Drei, fünf Minuten. Es wurde still. Ich sagte, lass uns kriechen. Also krochen wir ein bisschen, blieben eine Zeit lang liegen und machten uns dann auf den Weg. Tatsächlich war zwei Häuser weiter ein Kontrollpunkt, und sie schossen wahllos. In der Stille hat es sich angefühlt, als ob auf uns.“

Unattraktiv werden

Jewhens Frau heißt Olena. Sie ist eine schöne Frau mit braunem Haar und einer zarten Stimme. Wenn sie über die Ereignisse im März spricht, zittert ihre Stimme merklich. Olena wusste intuitiv, dass Jewhen bessere Überlebenschancen hat, wenn sie mit ihrem Mann mitkommt und den Hund mitnimmt. Außerdem könnte sie ihm helfen, falls ihm etwas zustoßen sollte. Sie sagt, dass es sogar einfacher war, bei ihm zu sein, als zu Hause zu bleiben und sich zu fragen, ob es ihm gut geht.

Ich versuche mir vorzustellen, wie Jewhen und Olena die Straße entlanggehen, mit dem Hund an der Leine, auf die Geräusche um sich herum achten und aufmerksam nach vorne schauen. Der erste Gedanke, der mir in den Sinn kommt, ist Angst. Olena widerspricht:

„Von Anfang an, als sie anfingen zu bombardieren und zu schießen, hat sich etwas in mir verändert. Alles, was vorher schwach war, wurde stark. Und alles, was beängstigend war, machte mir keine Angst mehr. Ich will nicht sagen, dass ich leichtsinnig war, aber wir gingen durch die Kontrollpunkte, sahen, wie Menschen irgendwohin gebracht wurden; sahen die Toten neben uns liegen, und selbst das machte mir keine Angst. Ich weiß nicht, wie ich das alles jetzt überlebt hätte, aber damals gab es immer die Hoffnung, dass dieser Horror bald ein Ende haben würde.“

Es war jedoch nicht nur gefährlich, durch die Straßen von Butscha zu gehen, sondern auch zu Hause zu bleiben. Russische Soldaten drangen nicht nur in verlassene Wohnungen ein. Eines Tages sah Olena bei der Zubereitung des Mittagessens im Hof, wie die Besatzer zwischen den Häusern umhergingen und Leute „besuchten“. Sie rief sofort ihren Mann an, um ihn zu warnen. Sie versteckten die Telefone. Danach band sie sich ein Kopftuch um und schminkte mich:

„Ich habe mein Haar unter einem Kopftuch versteckt und Schatten auf meinem Gesicht gemalt. Aber nicht dort, wo sie normalerweise sind, sondern unter den Augen, um unattraktiv auszusehen.“

Die Frau hatte sich diese Art Tarnung aufgrund eines Vorfalls ausgedacht, der sich am Vortag ereignet hatte. Sie brachten Jewhens Mutter Essen und wurden von den Besatzern gesehen, die auf einem Panzer auf der anderen Straßenseite saßen. Einer der Soldaten, ein Burjat, rief Olena zu, sie solle herkommen.

„Ich sagte ihm, ich hätte nichts, nur Zigaretten, aber ich könnte sie mit ihm teilen. Er nahm sie und sagte dann zu mir: ,Komm mit’. Ich machte einen Scherz, und er sagte: ,Okay, geh’. Jetzt weiß ich, dass ich damals Glück hatte.“

Aus den letzten Märztagen blieb Olena am deutlichsten eine Frau namens Anna in Erinnerung. Sie war ungefähr fünfzig und wohnte in der Nähe, so sahen sie sich mehrmals am Tag. Anna sagte, sie habe keine Angst, und lächelte immer. „Sie war sehr lebensfroh“, sagt Olena über sie. Jewhen riet den Frauen, sich nicht umzuziehen, damit der Schmutz und Ruß vom Kochen auf dem Feuer mögliche Übergriffe abwehren. Aber Anna ignorierte diesen Vorschlag und zog sich jeden Tag schick an. In der letzten Woche der Besetzung verschwand sie.

„Schenja und ich sagten scherzhaft, dass sie einen Verehrer hatte und dass sie zu ihm flüchtete. Als die ukrainische Armee dann die Stadt befreit hatte, ging ich auf den Friedhof, um das Grab meines Vaters zu besuchen – er starb kurz vor Neujahr. Und ich sah Annas Foto auf einem der Gräber. Sie sah genauso fröhlich aus wie zu Lebenszeiten.“

Optimismus bewahren

Seit Beginn der russischen Invasion führte Jewhen auf Viber eine Art Tagebuch über die Besatzung. In der Chat-Gruppe schrieb er kurze Nachrichten über das, was in Butscha geschah: „Am Morgen, wie immer, bei der Kirche schossen Panzer und Grads auf Irpin. 5 Schussserien“. Oder: „Heute wurden zwei neue Leichen auf der Woksalna Straße gefunden. Eine Frau und ein Mann, etwa 40-45 Jahre alt“. Einige Zeit später wurde Jewhen von SBU-Mitarbeitenden kontaktiert. Seitdem übermittelte er die Koordinaten der russischen Stationierungen direkt. Der SBU-Chatbot war dafür ungeeignet, da er vor Ort gemachte Fotos benötigte, was unmöglich war.

Mitte Mai veröffentlichte die New York Times ein Video von der Hinrichtung von acht Männern in Butscha. Die Aufnahmen, die am 4. März von Straßenkameras gemacht wurden, zeigen, wie einige Personen von russischen Soldaten abgeführt werden. Ein weiteres Video, das von einer Drohne aufgenommen wurde, zeigt diese Menschen tot. Die Autor:innen des Materials schreiben, dass die Hingerichteten Veteranen der ATO (Anti-Terror-Operation in der Ostukraine) waren.

Ich frage Jewhen, ob es in Butscha Leute gab, die die ATO-Veteran:innen an die Russen verraten oder anderweitig mit den Besatzern kooperiert haben. Jewhen nickt und sagt:

„Ich weiß auch von drei Mädchen, die mit den Russen rumgehangen haben. Zwei von ihnen sind bereits tot. Einer gelang die Flucht nach Polen. Aber jeder kennt sie hier, sie kann nie wieder zurück.“

Ende März kesselten die ukrainischen Streitkräfte in der Oblast Kyjiw die russische Armee ein. Am Morgen des 29. wachte Olena auf und sagte zu Jewhen, etwas hätte sich verändert, auch die Schüsse klangen anders. Am nächsten Tag hörten sie andere Geräusche – Militärfahrzeuge verließen die Stadt. Am 31. März erklärte der Bürgermeister von Butscha, dass sich keine russischen Truppen mehr in der Stadt befanden.

Mehrere Tage lang, zwischen dem Abzug der Besatzer und der Ankunft der ukrainischen Armee, ging Jewhen durch die Stadt und fotografierte auf Bitten seiner Bekannten ihre Häuser. Diejenigen, die die Stadt verlassen hatten, waren besorgt darüber, ob ihre Häuser beschädigt wurden.

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Ich frage Jewhen, ob er während der Besatzung Angst hatte. Er sagt, er habe nur Angst gehabt um das Leben seiner Töchter, als sie in Irpin waren. Aber später zogen sie erst nach Transkarpatien und dann nach Polen. Das Bedürfnis, mit einem Psychologen oder Psychiater zu sprechen, hat Jewhen nach seinen eigenen Worten nicht.

„Während der Besatzungszeit habe ich kein einziges Mal getrunken. Aber als eine Granate in das Nachbarhaus einschlug, war der Wunsch groß. Ich kenne zwei Männer in meinem Alter, die verrückt geworden sind. Einer von ihnen ist während eines Feuergefechts direkt vor die Kugeln gelaufen. Der andere lebt noch, aber er führt Selbstgespräche.“

Neben dem Hof der Andreaskirche trifft man Journalist:innen in Butscha am häufigsten in der Woksalna Straße an. Man kann den Unterschied zwischen ausländischen und ukrainischen Journalist:innen schon von weitem erkennen. Ukrainer:innen schauen sich die Trümmer düster und ruhig an. Die Ausländer:innen hingegen können fröhlich miteinander plaudern oder rauchen, während sie die Betroffenen interviewen.

Im Mai kehrten mehr und mehr Menschen in die Stadt zurück. Wenn sie Freunde oder Nachbarn auf der Straße trafen, umarmten sich die Einwohner:innen von Butscha und weinten. Wer die Besatzung nicht erlebt hat oder vor ihr nicht geflüchtet ist, kann sie nicht gänzlich verstehen. Auch Jewhen spricht über das Unverständnis:

„Es gibt eine Kluft zwischen uns und Menschen, die es nicht erlebt haben. Man erzählt ihnen, wie man ohne Strom und Wasser gelebt und aus dem Müll gegessen hat, und sie glauben einem nicht. Hier war ein Tag wie ein Jahr.“

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Nach unserem Gespräch in Butscha hörte Jewhen nicht auf, die Geschichte seiner besetzten Stadt zu erzählen. Noch mehrere Tage lang schickte er uns Fotos, Links zu Artikeln und Auszüge aus seinem Tagebuch über Viber. Das letzte Foto, das er schickte, zeigte die Enerhetykiw Straße. Ein Sakura-Baum blüht in voller Pracht.

Beitragende

Projektgründer:

Bogdan Logwynenko

Autor des Textes:

Wolodymyr Molodij

Fotografin:

Kateryna Moskaljuk

Übersetzerin:

Yuliia Sherchenko

Übersetzungsredakteurin:

Oksana Petruk

Koordinatorin der Übersetzung:

Olena Shalena

Koordinatorin von Ukraїner International:

Julija Kosyrjazka

Chefredakteurin von Ukraїner International:

Anastasija Maruschewska

Content-Managerin:

Anastasija Schochowa

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